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verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

die neue Heimath betrat! Jetzt, wo sie sich allein und unbeobachtet wußte, sah man es deutlich, daß sie eine ganz andere geworden war. Jener willenskräftige Zug, der sie ihrem Vater so ähnlich machte, hatte sich noch geschärft und vertieft, aber daneben prägte sich noch ein anderer, ein Schmerzenszug aus, wie bei einem Menschen, der mit geheimer Qual und Angst zu ringen hat. Die blauen Augen hatten den kühlen, leidenschaftslosen Blick verloren, es lag ein tiefer Schatten darin, der auch von Kampf und Qual erzählte, und das blonde Haupt senkte sich, wie unter einer unsichtbaren schweren Last.

Und doch athmete Adelheid auf bei dem Gedanken, daß dieser Tag der letzte war, den sie in Fürstenstein verleben sollte. Morgen um diese Zeit war sie schon weit weg, vielleicht gab es in der Ferne Rettung vor der dunklen Gewalt, gegen die sie nun schon wochenlang so angstvoll und so vergeblich kämpfte, vielleicht wurde es besser, wenn sie nicht Tag für Tag diese Augen sah und diese Stimme hörte. Wenn sie dem Bannkreise entfloh, mußte auch der Zauber brechen, und jetzt endlich durfte sie fliehen – Gott sei Dank!

Der Lärm der Jagd verklang in immer weiterer Ferne und verstummte endlich ganz; aber in dem Walde, der die Anhöhe dicht umzog, ließen sich jetzt Schritte vernehmen und mahnten die junge Frau, daß sie nicht mehr allein sei. Sie wollte gehen, doch in dem Augenblick, wo sie sich umwandte, trat der Nahende schon zwischen den Bäumen hervor – Hartmut Rojanow stand ihr gegenüber.

Die Begegnung war so plötzlich und unerwartet, daß die Selbstbeherrschung Adelheids nicht davor standhielt. Sie wich zurück, bis an den Stamm des Baumes, unter dessen Zweigen sie vorhin gestanden hatte, als müßte sie dort Schutz suchen vor dem Manne, dem sie entgegensah mit starrem, angstvollem Blick, mit dem Blick des verwundeten Wildes, das den Jäger kommen sieht.

Rojanow schien das nicht zu bemerken. Er grüßte und fragte hastig: „Sie sind allein, Excellenz? Der Unfall hat doch keine schlimmen Folgen gehabt?“

„Welcher Unfall?“

„Es hieß doch, Sie seien gestürzt mit dem Pferde.“

„Welche Uebertreibung! Nur das Sattelzeug ist gerissen, aber ich bemerkte es noch rechtzeitig und sprang aus dem Bügel, während das Thier ruhig stehen blieb – das ist der Unfall.“

„Gott sei Dank! Ich hörte etwas von einem Sturze, einer Verletzung, und da Sie nicht wieder bei der Jagd erschienen, so fürchtete ich –“

Er hielt inne, denn Adelheids Blick sagte ihm deutlich, daß sie dem Vorwande nicht glaubte; er kannte jedenfalls ganz genau den Hergang und hatte erfahren, warum und wo man Frau von Wallmoden zurückgelassen hatte, die jetzt allmählich ihre Fassung wiedergewann.

„Ich danke Ihnen, Herr Rojanow, aber Ihre Besorgniß war wirklich überflüssig,“ sagte sie kalt. „Sie hätten sich selbst denken können, daß die Herzogin und die anderen Damen mich bei einem wirklichen Unfall nicht hilflos im Walde zurückgelassen hätten. Ich bin eben auf dem Wege nach Bucheneck.“

Sie wollte an ihm vorüberschreiten, er verneigte sich und trat einen Schritt seitwärts, wie um sie vorbeizulassen, dabei aber sagte er leise: „Gnädige Frau – ich habe noch um Verzeihung zu bitten!“

„Verzeihung – wofür?“

„Für eine Bitte, die ich unbedachtsamerweise aussprach und nun so hart büßen muß. Ich bat ja nur um eine Blume, ist denn das ein so schweres Vergehen, daß man wochenlang darüber zürnen kann?“

Adelheid war stehen geblieben, fast ohne es zu wissen. Sie war wieder im Banne dieser Augen, dieser Stimme, die sie magnetisch festhielten.

„Sie sind im Irrthum, Herr Rojanow,“ entgegnete sie. „Ich zürne Ihnen nicht.“

„Nicht? Und doch ist es wieder der eiskalte Ton, den ich stets hören mußte, wenn ich seit jener Stunde es wagte, Ihnen zu nahen, und doch haben Sie seitdem das Werk kennengelernt, für das ich mir ein Zeichen erbat. Sie waren ja anwesend, als ich es in Fürstenstein vorlas. Meine ‚Arivana‘ wurde überschwenglich gelobt von allen Seiten, nur aus Ihrem Munde vernahm ich kein Wort, kein einziges – werden Sie es mir auch jetzt verweigern?“

„Ich dächte, wir wären heut auf der Jagd,“ sagte Adelheid mit einem Versuche auszuweichen, „da ist doch nicht Zeit und Ort, um über poetische Werke zu sprechen!“

„Wir haben beide die Jagd verlassen und sie geht jetzt nach dem Rodecker Gebiet hinüber. Hier ist nur Waldeinsamkeit! Sehen Sie dieses herbstliche Laub, das so schwermuthvoll an das Vergehen mahnt, dies schweigsame Gewässer da unten, diese Gewitterwolken in der Ferne – ich glaube, es liegt unendlich mehr Poesie darin, als in den Sälen von Fürstenstein.“

Er wies in die Landschaft hinaus, die sich vor ihnen ausbreitete, aber nicht mehr in dem hellen Sonnenglanze, der anfangs die Jagd begünstigt hatte, sondern in dem trüben Lichte eines dicht verschleierten Himmels, das selbst das bunte Laubgewand der Waldberge matt und welk erscheinen ließ.

Man sah weit hinaus in diese Berge, die, zu beiden Seiten zurücktretend, den Blick in die Ferne frei ließen, aber das endlose Meer von Waldwipfeln, das vor wenigen Wochen noch so grün und duftig im Winde wogte, trug jetzt die Farbe des Herbstes.

Vom dunklen Braun bis zum leuchtenden Goldgelb schimmerte es nah und fern in allen Schattirungen, und dazwischen leuchtete es roth aus den Gebüschen. Das sterbende Laub schmückte sich noch einmal mit trügerischer Pracht, aber es war doch nur die Farbe des Vergehens und Verwelkens, es war zu Ende mit dem Leben und Blühen!

Tief im Grunde lag ein kleiner Waldsee, der, dunkel und regungslos, zu träumen schien in dem Kranze von Schilf und Riedgras, der ihn umgab. Er glich so seltsam einem anderen Gewässer, das fern in Norddeutschland im einsamen Föhrenwalde lag – dem Burgsdorfer Weiher – und wie dieser endigte er in einer Wiese, auf der üppiges Grün winkte, genährt von dem Sumpf- und Moorboden, der sich tückisch darunter verbarg und den Unkundigen rettungslos in seine Tiefe zog. Er schien schon jetzt, im Tageslicht, Nebel und Dämmerung auszuathmen, und wenn die Nacht niedersank, begannen wohl auch hier die Irrlichter ihr geisterhaftes Spiel.

Am Horizont aber, wo bei klarer Witterung die Gipfel des Hochgebirges sichtbar waren, thürmte sich eine dunkle Wolkenwand gewitterhaft auf. Noch stand sie in weiter Ferne, aber ihr dumpfer, schwüler Hauch lagerte bereits über dem Walde, und bisweilen zuckte ein fahles Leuchten aus ihrem Schoße auf.

Adelheid hatte Hartmuts Frage nicht beantwortet, sie sah noch immer in die Landschaft hinaus, um nicht in das Antlitz des Mannes sehen zu müssen, der ihr gegenüber stand, und doch fühlte sie den dunklen, verzehrenden Blick, der auf ihrem Gesichte ruhte, wie sie ihn stets gefühlt hatte in den letzten Wochen, sobald Rojanow in ihrer Nähe war.

„Sie gehen ja morgen fort, gnädige Frau,“ hob er wieder an. „Wer weiß, wann Sie zurückkehren, wann ich Sie wiedersehe. Darf ich wirklich nicht um Ihr Urtheil bitten, nicht fragen, ob mein Werk Gnade gefunden hat vor den Augen – Adas?“

Das war wieder ihr Name auf seinen Lippen, wieder jener weiche, verschleierte und doch so leidenschaftliche Klang, den sie fürchtete, und dem sie doch lauschte wie einer Zaubermelodie. Adelheid fühlte, daß es hier kein Entrinnen und keine Flucht mehr gab, sie mußte der Gefahr ins Auge sehen. Langsam wandte sie sich dem Fragenden zu, aber ihr Antlitz verrieth, daß sie entschlossen war, den schweren Kampf auszufechten – den Kampf mit sich selber.

„Sie treiben ein seltsames Spiel mit diesem Namen, Herr Rojanow,“ sagte sie ernst und stolz. „Er stand über dem Gedichte, das mir in der letzten Woche auf räthselhafte Weise zugestellt wurde, von fremder Hand, ohne Unterschrift –“

„Und das Sie trotzdem gelesen haben?“ fiel er triumphirend ein.

„Ja – und verbrannt!“

„Verbrannt?“ Aus Hartmuts Augen zuckte wieder jener unheimliche Blick, der selbst Egon erschreckt und ihm den Ausruf entrissen hatte: „Du siehst aus wie ein Dämon!“ Sie bäumten sich wieder wild auf, die Dämonen des Hasses und der Rachsucht gegen den Mann, der ihn so tödlich beleidigt hatte und den er tödlich dafür treffen wollte, und doch liebte er diese Frau, wie der Sohn Zalikas eben lieben konnte, mit wilder, verzehrender Leidenschaft. Aber was er in diesem Augenblick empfand, das war mehr dem Hasse als der Liebe verwandt.

„Das arme Blatt!“ sagte er mit unverhehlter Bitterkeit. „Also den Flammentod hat es erlitten – es hätte vielleicht ein besseres Los verdient.“

„Dann hätten Sie es mir nicht senden müssen. Ich will und darf nicht solche Poesien annehmen.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1890, Seite 258. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_258.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)