Seite:Die Gartenlaube (1890) 235.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

nur mit einer kleinen Einschränkung zu, lieber Onkel. Ich habe mir nämlich ein Sondergebiet ausgesucht, auf welchem die Schützlinge Aeskulaps weniger als auf allen anderen im Dunkeln tappen, das einzige, das uns gestattet, die Mängel der Natur, wenn nicht zu ersetzen, so doch vollständig zu verdecken.“

„Und dies Gebiet? – Sie müssen einem Laien zugute halten, daß er solche Unterscheidungen nicht gleich versteht. Die Chirurgie vielleicht – ?“

„Nein – die Zahnheilkunde!“

„Die Zahn – ah, Sie spaßen, bester Wolfgang!“

„Gewiß nicht! Und ich habe mir eine ganz neue Art von Abhäsionsgebissen gesetzlich schützen lassen, die, wie ich hoffe, der Menschheit mindestens ebenso viel Nutzen bringen werden, als alle Schätze der Apotheken.“

„Das ist – das ist wirklich überraschend! Vermuthlich wollen Sie sich nun an irgend einem kleineren Orte niederlassen, um Ihre Kunst zu üben?“

„Gott bewahre! Ich könnte nichts Verfehlteres thun als das! Es ist mir ja nicht um ein kleines, bescheidenes Dasein zu thun, sondern mein zahnärztlicher Ehrgeiz schweift ins Ungemessene, und nur hier in Berlin ist an seine Befriedigung zu denken. Der Anfang ist sehr verheißungsvoll, denn ich hatte das Glück, sogleich eine Wohnung zu finden, die sich vortrefflich für meine Zwecke eignet. Der Graf Wendenstein hat mir heute morgen den ersten Stock seines Hauses Unter den Linden vermiethet. Fünfzehn nette Zimmer, und nach amerikanischen Begriffen lächerlich billig, denn er verlangt nur sechstausend Thaler für das Jahr.“

Der General von Brenckendorf gab immer deutlichere Zeichen einer Unruhe, die ihn ersichtlich kaum noch auf seinem Ledersessel duldete. Das verbindliche Lächeln auf seinem Gesicht hatte etwas Erzwungenes und Verzerrtes wie das Lächeln einer Ballettänzerin, die eben ein Dutzend der anstrengendsten Kunststücke hinter sich hat.

„Sehr preiswürdig in der That!“ bestätigte er mechanisch.

(Fortsetzung folgt.)




Nervenschmerzen.

Von Professor Dr. E. Heinrich Kisch.


All unser Empfinden von dem leichtesten Behagen bis zur höchsten Wonne, von dem kaum merklichen Mißbehagen bis zum heftigsten Schmerze, die ganze Stufenleiter der mannigfachen Schwankungen von Lust- und Unlustgefühlen kommt dadurch zustande, daß ein Reiz von außen durch die Nerven zu dem Mittelpunkt, dem seelischen Organe des Nervensystems, fortgepflanzt wird und hier zum Bewußtsein gelangt. Die Nerven sind die Leitungsbahnen für die Erregungswellen, welche zu den Nervenzellen der wunderbaren nervösen Endgebilde (Gehirn, Rückenmark) gelangen, und jeder Reiz, der irgend einen Theil jener Bahnen trifft, löst eine Empfindung aus, von deren Stärke es zunächst abhängt, ob sie uns angenehm oder unangenehm ist. Bis zu einem gewissen Grade ist jeder auf uns wirkende mittelstarke Reiz behaglich und erzeugt das Gefühl des Angenehmen, sich steigernd bis zur lebhaftesten Lust; ein verstärkter Reiz, der über jene Grenzen hinausgeht, ruft eine unbequem empfundene Erregung hervor, welche weiterhin in Schmerz übergeht. Sanftes Streicheln unserer Haut z. B. wird als wohliges Gefühl empfunden, heftiges Drücken derselben ruft schmerzhafte Empfindung hervor; harmonische Musiktöne schmeicheln angenehm unserem Gehörsinne, aber ohrenzerreißender Lärm thut uns weh.

Daß ein die empfindenden Nerven treffender Reiz als Schmerz zu unserem Bewußtsein gelangt, hängt indeß nicht allein von einem bestimmten Höhegrade jener Erregung ab, sonderst auch von der Empfindlichkeit des Nervensystems, welche bei verschiedenen Menschen eine ganz bedeutend verschiedene ist. So wie manche Personen derart fein entwickelten Geruchs- oder Geschmackssinn haben, daß sie vieles riechen und schmecken, was anderen Individuen gar nicht zur Wahrnehmung gelangt, so wird auch vielerlei von einer zarten, verwöhnten Dame als heftiger Schmerz empfunden werden, was bei dem abgehärteten, derben Bauernburschen gar keine unangenehme Reizeinwirkung hervorruft. Es kann aber auch durch krankhafte Zustände mancherlei Art das ganze Nervensystem oder ein Theil der Gefühlsnerven an übermäßig gesteigerter Empfindlichkeit (Hyperästhesie) leiden, infolge deren schon geringe Reize als unverhältnißmäßig bedeutender Schmerz empfunden werden.

Schmerzen in gewissen Nervenbahnen, Nervenschmerzen (Neuralgien) können darum die mannigfachsten Ursachen haben; sie können durch eine Erkrankung an der Endverzweigung des Nervs veranlaßt sein oder in einer krankhaften Veränderung in dem betreffenden Nervenstamme den Grund haben oder durch Krankheit des Gehirnes oder Rückenmarkes herbeigeführt sein oder endlich von einem Reize herrühren, welcher einen ganz anderen, entfernten Nerv trifft und von diesem letzteren auf jene Nervenbahn durch Vermittelung des Centralnervensystems infolge sogenannter Reflexwirkung übertragen wurde. Mit dem leicht hingeworfenen Worte „Nervenschmerz“ ist noch lange keine Entscheidung über Art und Grund desselben gefällt; es bedarf vielmehr der gründlichsten Untersuchung von seiten des Arztes, um darüber Klarheit zu verschaffen, welches Grundleiden vorhanden und in welcher Weise dasselbe zu bekämpfen ist.

Eine der häufigsten Neuralgien ist der Gesichtsschmerz, welcher im Gebiete des dreigetheilten Nervs empfunden wird und sich oft ebenso zu unerträglicher Heftigkeit steigert, wie von hartnäckiger Dauer ist. Dieser Schmerz tritt zumeist in einzelnen Anfällen auf, welche sich in verschiedenen Zeitfolgen wiederholen und eine wechselnde Dauer haben, zuweilen nur wenige Minuten, zuweilen auch eine Viertelstunde und länger anhalten. Die schmerzhafte Empfindung, welche als bohrend, stechend, spannend, brennend, reißend geschildert wird, strahlt meist von einer umschriebenen Stelle in der Richtung der Nervenverzweigungen aus, in die Augengegend, die Gesichtsgegend und Unterkiefergegend, pflanzt sich auch auf benachbarte Nervengebiete, in das Hinterhaupt, nach den Armen und der Brust fort und gestaltet sich nicht selten so fürchterlich erregend und aufreibend, daß die Kranken, von den Schmerzen gepeinigt, sich wie wahnsinnig gebärden, mit dem Kopfe gegen die Wand rennen, sich auf dem Boden herumwälzen, schreien und toben, daß es ein wahrer Jammer ist. Dabei kommt es zu mancherlei Sinnesstörungen, die Augen sind geröthet, die Sehschärfe leidet, es tritt Flimmern und Funkensehen ein, die Thränen fließen reichlich ab, das Gehör verschlechtert sich, Ohrensausen besteht in quälender Art, selbst der Geschmack leidet und unangenehme Empfindungen machen sich auch hier geltend, während der Geruchsinn gleichfalls nicht in Ordnung ist und in der Nasenhöhle eine eigenthümliche Trockenheit empfunden wird. Als Begleiterscheinungen treten oft Zuckungen und Krämpfe in den Gesichtsmuskeln und Kaumuskeln, Röthung und Schwellung der befallenen Gesichtshälfte, Ausschläge auf der Haut, Geschwüre auf den Schleimhäuten auf und geben dann ein trauriges Gesammtbild menschlicher Qualen, wie es nicht düsterer von der lebhaftesten Phantasie ausgemalt werden kann. Kein Wunder, daß solche Kranke durch diese Nervenschmerzen nicht nur körperlich herunterkommen und elend werden, sondern auch seelisch leiden, des Lebens überdrüssig werden und nicht selten die Fesseln, welche sie an ein so jammervolles Dasein ketten, selbst sprengen!

Dieser Gesichtsnervenschmerz aber, welcher in seiner höchsten Form zu solch stürmischen Erscheinungen anzuschwellen pflegt, kann aus den mannigfaltigsten Anlässen seine Entstehungsursache herleiten. Er kann von einer Erkältung herrühren, welche namentlich bei der wechselnden Witterung im Frühling und Herbst häufig vorkommt, oder ein hohler Zahn kann den Anlaß des Nervenschmerzes bieten; in anderen Fällen wiederum giebt eine Verletzung des dreigetheilten Gesichtsnervs oder eines seiner Aeste die Ursache ab, oder eine schwere Allgemeinerkrankung, Erschöpfungszustände nach starken Blutverlusten, nach körperlichen oder geistigen Ueberanstrengungen, trägt die Schuld. Zuweilen besteht ein ursächlicher Zusammenhang mit Krankheiten entfernter Organe, und namentlich sind es chronische Verdauungsstörungen, Krankheiten des Magens und Darmkanales mit hartnäckiger Unterleibsträgheit, welche als Reflexwirkung jene Schmerzanfälle auslösen.

Ein anderer, häufig vorkommender Nervenschmerz ist das Hüftweh (Ischias), eine Neuralgie, welche ihren Sitz im Hüftnerv

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 235. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_235.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)