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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Stirn, die großen schönen Augen und von der sicilianischen Mutter die scharfabfallende Nase, den kleinen Mund mit den starken Lippen und einen wahren Urwald von krausen schwarzen Haaren, deren Wellen auf- und niederhüpften, wenn sie mit schmetternder Stimme sang, indeß die Augen melancholisch zu Boden sahen und nur aufblickten, freundlich, heiß, sonnenhaft, wenn eine Gabe in die Schale fiel. Mit Männern schwatzte Marietta nie, ab und zu in Singpausen mit ihrer Nachbarin, welche an der Ecke neben ihr saß und auf einem Brette, das über einem hohen Korb lag, getrocknete Kürbiskerne feil hielt.

Die Straßensängerin hatte einen gewissen Ruf, nicht nur beim niederen Volke; man wollte ihr allgemein wohl, sie galt für tugendhaft und war es auch und manche gute Familie in der Nähe ihres Standes nahm sich ihrer an und half ihr mit abgelegten Kleidern; der alte Principe Dorande, der täglich, wenn er nach seinem Palazzo ging, an Mariettas Ecke vorbeikam und ihr jedesmal zunickte, hatte ihr bei seinem Tode sogar zweihundert Lire vermacht. Marietta stand in Achtung – freigebigen Fremden, die, von ihrer nationalen Schönheit berückt, ihr den Hof machen wollten, setzte sie kaltes, hartnäckiges Schweigen entgegen, sogar einen ernsten Freier, einen Fachino des Hotels de Rome mit goldbordierter Mütze, hatte sie abgewiesen. – Das kam daher, weil Mariettas Träumen und Denken, ihr Ideal der Besitzer einer Carozella war, eines jener kleinen, neapolitanischen Einspänner, welche zu Tausenden das tobende Gewirr der Riesenstadt durcheilen und von Arm und Reich zu Fahrten benutzt werden. Marietta schwärmte nicht nur für den Eigner solch eines Gefährtes, sondern auch für das Fahren überhaupt, und nicht selten wandte sie an Sonntagvormittagen, an welchen sie nicht sang, eine Lira auf, um von einem Ende der Stadt zum andern hin und zurück sich kutschieren zu lassen. Dann saß sie in dem Wägelchen, angethan mit ihrem blauen Sonntagskleide, dem hellgelbseidenen Brusttuch, zwei riesige rothgoldene Ohrringe in den kleinen röthlichen Ohren, stolz und majestätisch zurückgelehnt wie eine Königin, und ihre Augen leuchteten vor Lust und befriedigtem Ehrgeize.

Eine gewaltige Menge hatte sich angesammelt und lärmte und lachte.

Es meldeten sich viel Freier bei der sehr hübschen Marietta, jedoch ein Carozellabesitzer befand sich seltsamerweise nie unter diesen.

Ob diese gleich verheirathet zur Welt kämen, frug sich Marietta oft ganz zornig, denn sie war merkwürdigerweise nie auf einen ledigen gestoßen, und sie besaß doch die wunderbare Gabe, nach den ersten paar Worten beim Einsteigen in das Wägelchen schon herauszubekommen, ob einer verheirathet wäre. Es schien gar keine ledigen jungen Leute derart zu geben.

So verging die Zeit im Fluge. Ein Jahr nach dem andern rollte dahin – es meldete sich bei Marietta kein Carozellakutscher, der sie zur Frau begehrte, und das Mädchen fing an, sich den verhängnißvollen Fünfundzwanzig zu nähern – das ist die unheimliche Altersgrenze, bei welcher die meisten Italienerinnen beginnen, umfangreicher zu werden, als mit den Gesetzen der Schönheit sich verträgt. Marietta fühlte mit Schrecken, daß sie keine Ausnahme von der Regel machte, und sie stellte sich vor, daß in einem Jahre vielleicht sie an ihrer Straßenecke nicht mehr stehen und singen könnte, ohne ausgelacht zu werden.

Dieser ihr Beruf ward hinfällig mit der schwindenden Jugend. Was sollte sie dann thun, um sich einen Lebensunterhalt zu erwerben? Eine Schule hatte sie nie besucht, irgend eine Handfertigkeit nicht gelernt, in eine Fabrik gehen – Neapel hatte zu jener Zeit nur wenig derartige Arbeitsstätten und diese waren überfüllt von schlechtbezahlten Mädchen. Einen Grünkram aufthun – das hieße Wasser ins Meer tragen, denn fast in jedem zweiten Hause saß eine Frucht- und Gemüsehändlerin, und auch der Limonadenbuden gab es schon viel zu viel. Einen Beruf wie ihre Mutter ausüben – davor graute ihr, denn es lebte in Marietta ein Funke der Erkenntniß des Anständigen, Guten und Ehrlichen. – Da kam ihr eine Idee!

Sie hatte von einer gereiften Nachbarin erfahren, daß es in der Schweiz Doktorinnen, Telegraphistinnen, Postexpedientinnen und sogar Bahnhofskassiererinnen gäbe, die ganz so gut wie die Männer ihr Amt verwalteten und wie die Männer selbständig aufträten, und da eine dunkle Vorstellung von Frauenemanzipation schon lange in Mariettas nicht unbegabtem, klugem Kopfe gährte, so verfiel sie auf den Gedanken: wenn kein Kutscher mit der Carozella zu dir kommen will, so gehe du als Kutscher zu einer Carozella. Einen ehrlichen Beruf darf dir niemand wehren – in diesem Falle hast du erstens das Vergnügen, den ganzen Tag zu fahren, und bekommst zweitens die Lust noch bezahlt, und als erster weiblicher Kutscher in Neapel wirst du noch ganz anders berühmt werden wie als Sängerin und in kurzer Zeit das Geschäft

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_209.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)