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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

„Es ist mein Nachbar, Herr Joseph Hudetz – Journalist, wenn ich nicht irre! Gestatten Sie mir, lieber Herr Hudetz, Sie mit meinem Bruder Wolfgang bekannt zu machen!“

Der Letztere neigte artig das Haupt, und auch Hudetz bewegte die Schultern in einer Weise, die wohl eine Verbeugung darstellen sollte. Aber seine Augen blieben nichtsdestoweniger unverwandt auf die Thür gerichtet, und als die beiden anderen nun weiter in das Zimmer herein traten, schob er sich bastig dem Ausgange zu.

„Sie werden verzeihen – ich kann – ich darf – ich habe die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen.“

Mit lautlosen Schritten war er hinaus gehuscht wie ein Schatten. In lebhaftem Erstaunen blickte ihm Wolfgang von Brenckendorf nach. Aber rasch wandte er sich wieder seiner Schwester zu und rief in fröhlichem Tone:

„Da wäre ich also wieder, um nach fünfjähriger Trennung mein Schwesterchen zu umarmen. Nun, ich muß Dir auf Ehre und Gewissen versichern, daß Du Dich in diesen fünf Jahren viel prächtiger herausgemacht hast, als ich’s dem mageren Backfischchen von damals je zugetraut hätte. Bist Du zufrieden?“

„Von dem eigenen Bruder kann man sich’s ja am Ende gefallen lassen.“

„Natürlich erwarte ich, daß Du mir das Lob zurückgiebst. Ist mir die amerikanische Luft nicht recht gut bekommen?“

Sie gab sich neckend den Anschein, als ob sie ihn erst jetzt betrachte, und doch leuchtete ihr der freudige Stolz auf des Bruders schöne, männlich kraftvolle Erscheinung schon seit dem Augenblick der ersten Begrüßung aus den Augen.

„Nun ja, man muß sich nicht gerade schämen!“ meinte sie, ihm einen leichten Schlag auf die Wange versetzend. „Du hättest auch in einem schlimmeren Zustande wiederkommen können.“

„Auf zerrissenen Schuhen etwa, mit einem ungeheuren Knotenstock und einer rothen Nase! Ehrlich gesprochen, Schwesterchen: hast Du nicht manchmal im Stillen gefürchtet, daß sich eines Tages etwas derartiges ereignen könnte?“

„O nein, Deine Briefe ließen mir ja keinen Zweifel darüber, daß Du Dich in vortrefflichen Verhältnissen befindest.“

Sie hatte diese Worte etwas zögernd und nicht mehr mit jener übermüthigen Heiterkeit gesprochen, von welcher bis dahin ihr Geplauder erfüllt gewesen war. Wolfgang aber bemerkte es nicht, oder er gab sich doch den Anschein, es nicht zu bemerken.

„Ja, meine Briefe!“ meinte er, seine geschmeidige Gestalt behaglich in den Stuhl zurücklehnend. „Es ist doch ein eigen Ding um solche Schreiberei aus weiter Ferne! Wenn ich mir den Inhalt der kurzen Schriftstücke ins Gedächtniß zurückrufe, mit denen mich das gnädige Fräulein in nur zu langen Zwischenräumen beehrte, so müßte ich eigentlich zugleich erstaunt und zerknirscht sein über den freundlichen Empfang, der mir verirrtem und verlorenem Schäflein aus der edlen Brenckendorfschen Herde hier zu theil geworden ist.“

„Ich hoffe, Du hast niemals im Ernst an meiner schwesterlichen Liebe gezweifelt, Wolfgang!“

„Im Gegentheil! Ich hielt mich immer überzeugt, daß alle die unangenehmen Dinge, die Du mir zu sagen oder vielmehr zu schreiben geruhtest, nur ein rührender Ausfluß eben dieser treuen schwesterlichen Liebe seien. Aus Deinen ernsthaften Vorstellungen schaute mir trotz alledem das Bild eines lieben, rosigen Geschöpfchens entgegen, dem die Unschuld und die Unerfahrenheit hell aus den Augen guckten, eines holdseligen kleinen Mädchens, das in seiner Herzensgüte und Herzenseinfalt von dem rauhen, unerbittlichen Ernst des Lebens nur gerade so viel wußte, als man gemeinhin mit neunzehn Jahren davon erfahren hat.“

Marie legte ihm die Hand auf den Mund.

„Genug, Du Spötter! Glaubst Du denn, daß ich trotz der haarsträubenden Schmeichelei die Bosheit nicht verstände? Also nach meinen Briefen war ich in Deinen Augen ein Gänschen, das vom Leben nicht mehr weiß, als der Blinde von der Farbe! – Und daß ich mich schon seit zwei Jahren mutterseelenallein mit diesem unerbittlichen Leben herumschlage – daß ich mich, wie ich denke, dabei ganz tapfer gehalten habe, obwohl es mir durch meine Erziehung sicherlich nicht leichter gemacht worden ist als Dir – das kam dem hochmütigen Herrn der Schöpfung natürlich nicht in den Sinn!“

„O doch, meine wackere kleine Marie, und es erfüllte mich sogar jederzeit mit unbedingter Hochachtung und Bewunderung! Aber ich meine, wir müßten einen kleinen Unterschied machen zwischen Deinem Kampfe ums Dasein und dem meinigen. Für ein mittelloses junges Mädchen bedeutet es ja unter den bestehenden Verhältnissen gewiß einen sehr achtungwerthen Erfolg, wenn es sein Leben zu fristen vermag, ohne dafür Freiheit und Selbständigkeit bis auf den letzten Rest drangeben zu müssen. Ein Mann aber, der es zu nichts Besserem brächte, hätte doch wohl wenig Ursache, sich seiner Kraft zu rühmen. Und ich hätte die Heimath nicht erst zu verlassen brauchen, wenn es nicht mit dem festen Entschluß geschehen wäre, es zu etwas Besserem zu bringen. Es war noch recht viel Ballast in meinem Lebensschifflein, als ich damals halb freiwillig und halb gezwungen aus dem Elternhause absegelte: einige Kisten voll jugendlichen Leichtsinns und voll höchst unklarer und unfruchtbarer idealistischer Schwärmereien, vor allem aber ein gewaltiger Sack voll verrotteter Anschauungen und überlebter Vorurtheile, dessen schätzenswerthen Besitz ich meiner Erziehung im Elternhause, dem studentischen Verbindungsleben und meinen beiden Lieutenantsjahren zu danken hatte. Aber der Wind blies mir scharf entgegen, die Wellen drohten über Bord zu schlagen und ich sah bald, daß mein Schifflein gefährlich überladen war. So wanderte denn der Ballast nach und nach ins Meer – der Sack mit den Vorurtheilen zuerst, dann der göttliche Leichtsinn und zuletzt – weil ich mich von ihnen am schwersten zu trennen vermochte – all meine schönen idealistischen Schwärmereien! Ich lernte erkennen, daß es reiner Unsinn sei, mit den Lerchen oder auch nur mit den Spatzen um die Wette fliegen zu wollen, so lange man bis zu den Knieen im Sumpfe steckt. Und statt des alten Brenckendorfschen Wahrspruchs: „Demüthig und muthig“ wählte ich mir die Losung „Fleißig und beharrlich“. Sie klingt vielleicht nicht ganz so feudal, aber ich bin doch weiter damit gelangt, als ich mit der Demuth und dem Muthe gekommen wäre. Reichthum und Unabhängigkeit, das sind meine Ziele; sie gefallen Dir nicht recht, wie Du mir wiederholt mit edler Entrüstung geschrieben hast, aber Du darfst mir getrost glauben, daß alle anderen begehrenswerthen Dinge an der nämlichen Straße liegen.“

„Und um reich und unabhängig zu werden, mußtest Du nothwendig den Beruf eines – eines Zahnarztes ergreifen?“

„Nicht gerade nothwendig, denn die Gastwirthslaufbahn ist unter Umständen auch nicht übel. Und Leute, die mit Schweineschmalz gehandelt oder alte Kleider zu Kunstwolle verarbeitet haben, sind bekanntlich schon zu großem Vermögen gelangt. Aber für jede dieser aussichtsreichen Bahnen fehlten mir die geeigneten Vorkenntnisse. Ich war zu alt und zu steif, um einen brauchbaren Kellnerburschen abzugeben, welche Stufe man unbedingt durchmachen muß, um ein steinreicher Gasthausbesitzer zu werden – und ich fürchte, daß ich trotz des redlichsten Bemühens niemals sachverständig genug in Bezug auf Schweineschmalz oder alte Kleider geworden wäre. Von meinen fünf Bonner Semestern her aber wußte ich ganz gut einen Backenzahn von einem Schneidezahn zu unterscheiden und auch sonst war da noch dies oder jenes haften geblieben, das mir einen Theil meiner zahnärztlichen Lehrzeit ersparen konnte. So entschied ich mich denn schnell für diesen ebenso nützlichen als ehrenwerthen Beruf, eingedenk der trefflichen Wahrheit: Time is money! Zeit ist Geld.“

„Es ist schrecklich, dergleichen anhören zu müssen, und noch schrecklicher, nicht einmal böse werden zu können, wenn man Dich so leibhaftig vor sich sieht. Reden wir denn nicht mehr davon – wenigstens heute nicht mehr. Wie lange gedenkst Du Dich hier aufzuhalten?“

„So lange es Gott gefällt, mein Liebling! Eine von den alten Jugendschwärmereien ist nämlich doch an mir haften geblieben: die Liebe für mein deutsches Vaterland! – Und ich denke, es wird auch hier genug hohle Zähne geben, um meine Kunst zu Ehren kommen zu lassen.“

Marie schien in allem Ernst ein wenig erschrocken.

„Wie? Du denkst daran, Dich dauernd hier niederzulassen? Du willst in Berlin Zahnarzt werden?“

„Gewiß! Würdest Du Dich etwa schämen, vor aller Welt bekennen zu müssen, daß Dein leiblicher Bruder Zähne plombiert und falsche Gebisse fertigt?“

„Ich – o nein! Aber was würde der Papa sagen, Wolfgang, wenn es ihm beschieden gewesen wäre, das zu erleben?“

Das frische, heitere Gesicht des jungen Mannes wurde ein wenig ernster.

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