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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Auch Obadjas wachsend freundliche Gesinnung gab ihm viel von seiner alten Freudigkeit und Frische zurück; was aber dies Gefühl der Frische vielleicht am meisten belebte, das war, daß sich Tobys in letzter Zeit eine wahre Jagdleidenschaft bemächtigt hatte, zu deren Befriedigung, wie sich denken läßt, niemand geeigneter erschien als Lehnert, der die Tugenden eines guten Schützen mit denen eines erfahrenen Bergsteigers in sich vereinigte. Dies letztere war die Hauptsache. Denn von einem bequemen Absuchen wie früher an den niedrig gelegenen Sümpfen und Teichen hin war schon lange keine Rede mehr, vielmehr ging es bei jeder sich bietenden Gelegenheit hoch ins Gebirge hinein, und Weihen und Bussarde wegschießen, oder auch wohl einen Bartgeier beschleichen, das war jetzt das Jagdvergnügen, nach dem Toby dürstete.

Der Alte mißbilligte das und würde dagegen eingeschritten sein, wenn er nicht Tobys Charakter gekannt hätte, der alles mit Feuereifer angriff, aber nur um es nach kurzer Zeit wieder fallen zu lassen. Hierin fand er seine Beruhigung und ließ es geschehen, wenn Lehnert Toby auf seinen Ausflügen begleitete.

So war Ende Mai gekommen und Toby verlangte danach, einen Steinadler zu schießen, der – er wußte genau die Stelle, wo – hoch im Gebirge nistete. Dann aber wollt’ er zu dem Neste hinaufklettern und die zwei Jungen ausnehmen und großziehen, um sie dem Zoologischen Garten in Galveston zum Geschenk zu machen. Bei seiner letzten Anwesenheit daselbst war er nämlich eitel und unvorsichtig genug gewesen, dem Vorstande des Gartens ein solches Versprechen zu machen, und hielt nun die Durchführung für Ehrensache, worin er sich sogar von seiten Ruths bestärkt sah.

Es war am letzten Tag des Monats, daß sich Toby zu diesem Fange rüstete. Lehnert, der ins Feld mußte, konnte nicht mit, weshalb – wie schon bei früheren Gelegenheiten – ein jünger Arapahoindianer für ihn eintrat, der ein besonderer Liebling von Ruth und Toby war. Er hieß Short-arm, d. h. „Kurzarm“, weil er, infolge eines Armbruchs, einen etwas zu kurzen Arm hatte.

Beide, Toby und Shortarm, waren sehr früh, schon bald nach Mitternacht, aufgebrochen und hofften, mit Sonnenaufgang oben und spätestens um Mittag in Nogat-Ehre zurück zu sein. Aber die vierte Stunde war schon heran, ohne daß sich Toby gemeldet hätte. L’Hermite, von Ruth und Maruschka, die sich zu ängstigen begannen, ins Vertrauen gezogen, ging in Lehnerts Zimmer hinüber, um von dort aus nach dem Gebirge hin Ausschau zu halten, aber, so klar der Tag war, auf der ganzen zwischenliegenden Strecke war zunächst für ihn niemand sichtbar, bis er nach einer Weite Lehnerts gewahr wurde. Er kam von einem zu Nogat-Ehre gehörenden Vorwerk zurückgeritten, auf denn derzeit die Kaulbarse ihren Aufenthalt hatten. Die Sonne, die stark blendete, ließ den ruhig Herantrottenden anfänglich bei seinem Aufblick nicht viel erkennen, als er aber eine Weile danach den mit seinem Käppi winkenden L’Hermite deutlich bemerkte, wurd’ er stutzig und setzte sich, während er seinem Pferde die Sporen gab in einen rascheren Trab. Und nun war er heran und erfuhr von dem in der Flurhalle seiner bereits harrenden Freunde, daß man Tobys halber in Sorge sei. Sie sprachen noch, als auch Odadja hinzutrat und seiner Unruhe, der er bis dahin nicht hatte nachgeben wollen, den allerlebhaftesten Ausdruck gab. Die Wanduhr schlug halb halb fünf. Auch Ruth und Maruschka waren die Treppe herabgekommen und die gute Alte weinte heftig. Sonst schwieg alles und doch war es eine Scene voll immer wachsender Aufregung. Lehnert fuhr überlegend mit der Hand über die Stirn, L’Hermite pfiff und Obadja richtete sein Auge nach oben. Zwischen ihnen hin und her aber lief Uncas und winselte, und wenn er vor Lehnert stand, setzte er sich und sah ihn an und schien zu fragen: „Wo ist Toby?“ Das kluge Thier wußte: der allein kann helfen: Ihr anderen seid nichts.

In diesem Augenblicke that Ruth einen Schrei; Shortarm war die Rampe heraufgekommen, athemlos, und auf Obadja zustürzend, warf er sich vor dem Alten auf die Kniee und sagte: „Master Toby . . . “

„Ist todt?“

„Nein! Er hat sich verirrt. Wir verloren uns. Ich konnte ihn nicht mehr finden.“

Und nun erzählte er mit zitternder Stimme, daß Toby, dicht neben dem „Look-out“, dem höchsten der Berggipfel, auf einige dort auf dem Grat zusammengewürfelte Steintrümmer hinaufgestiegen, aber nach einer halben Stunde und länger noch immer nicht zurückgekommen sei. Auch kein Hilferuf. Nichts. Da sei er selber hinaufgeklettert. Aber kein Toby da. Todt könn’ er nicht sein. Denn es sei nicht hoch gewesen und keine Gefahr. Aber er sei weg. Er müsse sich in den Felsen oder weiter unten im Walde verirrt haben.

Obadja rang nach Fassung. Seine Tage waren gezählt. Wenn das der Ausgang war, daß ihm Gott den Jungen nahm, den Erben, für den er gelebt hatte . . . Und sonst so ruhig und überlegen, war er jetzt wie rathlos und schritt auf und ab. „Ich will beten,“ sprach er vor sich hin. „Aber Gebete . . . Gott will nicht bloß Gebete . . . Wir sollen auch thun, mitthun. So will es Gott. Dann hilft er . . . Lehnert . . . Alles, alles.“

Und dabei nahm er Lehnerts Hand.

Und über Lehnerts Züge flog es wie ein Glanz von Glück und er fühlte deutlich, der Tag, der über ihn entscheiden müsse, sei nun gekommen. Er ging auf Shortarm zu, riß ihm Gewehr und Jagdtasche von der Schulter und sagte: „Komm, Uncas!“

Und vor Freude heulend, sprang das schöne Thier in die Höh’ und folgte dem voranschreitenden Lehnert.


25.

Lehnert ging in starken, Schritt auf das Vorwerk zu, bog aber, eh’ er heran war, nach rechts hin in einen Querpfad ein, der ins Gebirge hinauf stieg. Oben wollt’ er dann den Kamm entlang gehen und von den höchsten Punkten aus Umschau halten. Er war von einem festen Vertrauen erfüllt, daß er Toby finden würde, wenn nicht unterwegs, so doch in Nähe der weit vorspringenden Felspartie, die wegen der mit Vorliebe darauf nistenden Adler schon von alter Zeit her den Namen „Eagle’s Point“, „Adlerspitze“ führte. Jeder Punkt an dieser Stelle war ihm, nach den vielen gemeinschaftlichen Jagdausflügen der letzten Monate, ziemlich genau bekannt; was aber sein Vertrauen noch stärkte, war der Umstand, daß etwa tausend Schritt von Eagle’s Point entfernt ein noch höherer Kegel aufragte, der erwähnte „Look-out“, der nicht bloß wundervolle Fernblicke, sondern einen genauen und leichten Einblick in die nächstgelegenen Felspartieen, am besten aber in die von Eagle’s Point gewährte. Vom Look out aus mußt’ er Toby sehen oder ihn anrufen können, denn dieselbe klare Lust, die das Sehen erleichterte, trug auch den Schall fort.

Es war um die siebente Stunde, daß er an der Stelle hielt, wo der Look-out-Kegel erst in einer mäßigen Schrägung, dann aber einen Knick, eine Stufe machend, in beinah senkrechter Steile anstieg. Am Fuße der gesammten Felsmasse, Sockel wie Spitze, sprang ein Quell und fiel in einen ausgehöhlten Stein. Und hier bückte sich Lehnert, um zu trinken, und stieg dann den unteren Absatz bis zu dem Einknick hinauf. Er war müde geworden und hätte hier gern eine kleine Weile gerastet, um neue Kraft zu sammeln; aber die Sonne stand schon tief, und so war denn keine Zeit mehr zu verlieren, wenn er noch mit Hilfe des Tageslichts einen leidlich guten Einblick in die Spalten und Klüfte haben wollte. So warf er denn nur die Jagdtasche bei Seite, die ihm beim Klettern bloß hinderlich gewesen wäre, und stieg höher hinauf. Uncas wollte mit. Es war aber zu steil und zu glatt für ihn und, unglücklich, Lehnert nicht folgen zu können, blieb er auf dem breiten Rande, den der Einknick bildete, zurück und legte sich neben die Jagdtasche. Daß er etwas zu hüten hatte, schien ihm ein Trost.

Der Aufstieg ging besser, als Lehnert erwartet hatte. Die Steile zeigte sich freilich beträchtlich, aber überall waren Spalten und Risse, die dem Fuß einen Halt gaben, und an mehr als einer Stelle stand Zwergholz und hier und da selbst ein Busch, daran der Kletternde sich halten und mit nicht allzuviel Schwierigkeit hinaufziehen konnte. Die ganze Höhe betrug keine hundert Fuß, und ehe fünf Minuten um waren, war Lehnert oben und genoß eines wundervollen Umblicks. Zur Linken, unmittelbar über dem Kamm, stand der Sonnenball und goß seine Gluth derart über die ganze lange Berglinie hin ans, daß beide Seiten des Kamms in einem hellen Lichte lagen. Weiter abwärts freilich herrschte schon Dämmerung, was übrigens nicht hinderte, daß Lehnert die weite Thalmulde, bis zu den Shawnee-Hills hin, überblicken konnte. Das da drüben mußte Fort Holmes sein und die vereinzelt aufblinkenden Lichter im Thal bezeichnetn die Linie, wo die Bahn lief. Und zuletzt weilte sein Blick auf Nogat-Ehre. Da lag es. Das erste Haus, das war Obadjas, da wohnte Ruth und er grüßte hinüber. Ja, einen Augenblick vergaß er fast, um was er hier war, und erst als er sich’s wieder vor die Seele

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 182. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_182.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)