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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

so klang regelmäßig vom linken Korridor ein Choral herüber oder ein geistliches Lied: Ruth sang und Toby begleitete. Was aber Lehnerts Gemüth mehr noch als dieser Gesang in Anspruch nahm, war, daß er mal auf mal, wenn er an Monsieur L’Hermites Zimmer vorüber kam, in aller Deutlichkeit hören konnte, wie dieser die Thür leis ins Schloß drückte, ganz so, wie wenn er’s verbergen wollte, dem Gesange Ruths gelauscht zu haben. Einmal aber traf es sich, daß L’Hermite, trotz aller Vorsicht, auf seinem Lauscherposten von Lehnert doch überrascht und dadurch in eine kleine augenblickliche Verlegenheit versetzt wurde. Seine französisch gute Laune half ihm aber rasch darüber hin und sein Käppi zurückschiebend, wie seine Gewohnheit bei jeder Ansprache war, trat er an Lehnert heran und sagte, während er nach dem linken Korridor hinüber deutete: „Nicht übel! Nicht wahr?“ Und als Lehnert nickte, nahm er dessen Arm und sagte: „Bitte, treten Sie ein, mein lieber Feind!“

Lehnert folgte denn auch der freundlichen Aufforderung und nahm in einem Schaukelstuhle Platz, während sich L’Hermite mit übereinandergeschlagenen Beinen auf den durch eine grüne Schirmlampe nur mäßig erleuchteten Arbeitstisch setzte. Die mäßige Beleuchtung war denn auch Ursache, daß viele Stellen des Zimmers, der eigentlichen Ecken und Winkel ganz zu geschweigen, in einem Halbdunkel verblieben; aber sie gab immer noch Licht genug, um den Umschau haltenden Lehnert erkennen zu lassen, daß der ganze Raum ein merkwürdiges und sehr unordentliches Durcheinander von Schlosserwerkstatt und chemischem Laboratorium, von physikalischem Kabinett und Mineraliensammlung war. Das Chemische herrschte vor, im übrigen aber lief der Gesammteindruck darauf hinaus, daß es nichts auf der Welt gäbe, was hier nicht entdeckt und erfunden werden könnte. Welchem Zweck das alles diente, gab zu denken, und Lehnert, der immerhin einiges von L’Hermites Vergangenheit in Erfahrung gebracht hatte, würde beim Anblick all dieser Kolben und Retorten sicherlich auf einige für Europa bestimmte Nihilistenbomben gerathen haben, wenn nicht Nogat-Ehre so ganz den Stempel des Friedens getragen und Obadja selbst bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit einer besonderen Vorliebe von Monsieur L’Hermite gesprochen hätte.

Lehnerts Verweilen an diesem ersten Besuchsabend war nur von kurzer Dauer gewesen, aber es hatte doch ausgereicht, beide einander zu nähern und in weiterer Folge sogar regelmäßige Zusammenkünfte herbeizuführen. An jedem dritten Tage, wobei zwischen hüben und drüben gewechselt wurde, traf man sich zu ziemlich später Stunde und plauderte dann bis Mitternacht. Das war die Regel, die, wenn Lehnert Wirth war, streng galt. An den L’Hermite-Abenden aber – an denen, außer einigen anderen Verpflegungsfinessen, auch ein in Galveston erstandener und mit Cognac und Absynthflaschen reichlich ausgestatteter Rosenholzkasten eine Rolle spielte – ging ihr Geplauder gelegentlich bis über die zwölfte Stunde hinaus. Obadja wußte von diesem Rosenholzkasten und daß ihm, vor allem von L’Hermite selbst, fleißig zugesprochen würde, was er, wie sich denken läßt, mißbilligte; trotzdem ließ er es geschehen, einmal weil ihm alles Erziehen, wenn es sich nicht von selbst machte, zuwider war und fast mehr noch, weil er sich nicht das Recht zuschrieb, die Lebensgewohnheiten eines Mannes zu regeln, der, wenn auch ein Flüchtling, so doch immerhin ein unbeanstandeter Gast und auch eine Person von praktischer Bedeutung für Nogat-Ehre war. Und so störte denn niemand diese Zusammenkünfte, die bald beider Freunde besondere Lust und Freude wurden.

Nur eines, was übrigens die Freude nicht minderte, fiel Lehnert bei diesen abendlichen Zusammenkünften auf, und das war die Zurückhaltung, mit der L’Hermite seine „große Zeit“, seine historische Vergangenheit behandelte. Nicht als ob er Lust bezeigt hätte, sich von ihr loszusagen, durchaus nicht, er vermied nur einfach, ohne Veranlassung davon zu sprechen, und beschränkte sich, wenn diese Veranlassung eintrat, auf das unbedingt Nöthigste. Der furchtbare Ernst der Scene, darin er mitgespielt hatte, war ihm gegenwärtig und ein feines ästhetisches Gefühl, das ihn überhaupt auszeichnete, hielt ihn ab, von einem Hergange zu sprechen, dessen Erwähnung, wenn es die Verhältnisse nicht geradezu geboten, entweder renommistisch oder cynisch berühren mußte. Als Lehnert erst klar darin sah, stimmte er seinem Flurgenossen zu, vorher aber war er doch wochenlang von dem Verlangen erfüllt, über den interessanten Hergang Ausführlicheres zu hören, und schwankte nur, nach welchem Plane er Verfahren solle, um seine Neugier zu befriedigen. Schließlich entschied er sich dafür, auf einem Umwege vorzugehen und das Gespräch zunächst auf die langen Einschließungstage von Paris zu lenken. Es seien langweilige Tage gewesen, auch für sie draußen, und das Zerstreuliche hab’ erst eigentlich begonnen, als die Franzosen untereinander ins Scharmützeln gerathen seien, die Versailler gegen die Pariser. Da haben er und seine Kameraden oft viele Stunden lang auf dem Höhenzuge zwischen St. Germain und St. Denis gestanden und dem Kriege wie einem richtigen Kriegsschauspiel zugesehen. Und einmal hab’ er ganz deutlich beobachten können, wie die Parisischen durch eine geschickte Bewegung über die Brücke von Asnisres alles, was von Regierungstruppen in der großen Seine-Schleife gestanden, abgeschnitten hätten. Aber das sei freilich auch der letzte Sieg gewesen und schon am nächsten Tage sei der Triumphbogen von dem von St. Cloud vorgehenden Bataillone erstürmt worden. Und wenn er sich vergegenwärtige, was er bei der Gelegenheit alles gesehen habe, so begreif’ er nur zu gut, was seitens der Kommunarden geschehen sei, und könne von Grausamkeit keine Rede sein.

Monsieur L’Hermite hatte, während Lehnert so sprach, still vor sich hingeblickt und eine Cigarette gedreht und erst nach einer Weile das Wort genommen. Es sei so, wie Lehnert sage. „Die Sache da draußen am Trocadero war kein Spaß und darauf hin wurden die Geiseln erschossen . . . Und der letzte war der Erzbischof . . . Ich übernahm selber das Kommando . . . Er ist gestorben wie ein Held!“

Lehnert sog jedes Wort ein, als L’Hermite so sprach, und glaubte, jetzt sei der Augenblick für vertrauliche Mittheilungen gekommen. Aber er sah sich abermals getäuscht, und sein Wissen blieb im wesentlichen auf dem Punkt, auf dem es schon vorher gestanden hatte.

Nicht viel besser erging es ihm, als er auf einem ähnlichen Umwege den Versuch machte, näheres über seines Flurgenossen Flucht aus Numea, wohin dieser deportiert worden war, herauszuholen. L’Hermite wiegte den Kopf hin und her und sagte dann, während er, um damit zu spielen, eine große Feile vom Arbeitstische nahm: „Es machte sich schnell. Wir waren unser drei, die’s wagten, weil wir gut schwimmen konnten, und schwammen denn auch wirklich, trotz Brandung, auf ein Schiff zu, von dem wir wußten, daß der Kapitän mit unserer Sache sei. Meinen beiden Kameraden aber ging die Kraft aus; ich für mein Theil konnte noch gerad’ ein Tau fassen, das mir von Deck aus zugeworfen wurde. Das ergriff ich denn auch und eine Minute später zogen sie mich an Bord. In derselben Stunde noch ging’s nach Portland. Und da war ich frei. Das andere wißt Ihr; Ihr kommt ja auch von San Francisko her. Ist eins wie das andere.“

So knapp waren Monsieur L’Hermites Erzählungen, wenn es seine historische Zeit galt, aber desto mittheilsamer war er, wenn er auf seine mit Technik und Mechanik und vor allem mit dem Bergwerkswesen in Zusammenhang stehenden Pläne zu sprechen kam. War er doch vor allem ein Entdecker und Erfinder, und wenn er auch unzweifelhaft an seiner kommunistischen „Idee“ mit einem stillen Fanatismus festhielt, so gab es doch eins, was in seinen Augen der „Idee“ gleich kam, das war das „Projekt“. Ja, er war vielleicht über alles andere hinaus seiner ganzen Natur nach nichts als ein Projektenmacher, und was er die „Durchführung seiner Idee“ nannte, war eigentlich auch nur Projekt und hätt’ ihn, wenn es anders gewesen wäre, schwerlich in seinem Gemüthe derart ergriffen, wie’s jetzt thatsächlich der Fall war. Er hielt Lesseps für den größten Mann des Jahrhunderts, und Isthmusdurchstechung oder eine Tunneleisenbahn unter dem Kanal zwischen England und Frankreich hin, Ausschöpfung der Zuydersee und Füllung der Saharawüste mit Oceanwasser waren Dinge, die seiner Seele mindestens so hoch standen, vielleicht noch höher als der Sieg der Kommune.

* * *

Es war in einer Nacht nach einem solchen Gespräch mit L’Hermite. Lehnert schlief noch nicht lang, als ein Klopfen ihn weckte. Wer es sein könne, war ihm kaum zweifelhaft, und erging auf die Thür zu und öffnete. Wirklich, es war L’Hermite, nur in Pantoffeln und weitem Beinkleid und sein Käppi wie gewöhnlich im Nacken. In der Linken hielt“ er einen Leuchter, drin ein Lichtstümpfchen, mit einem Dieb am Docht, steckte, das ein rußigqualmendes, flackerndes Flämmchen gab. Das Groteske ging unter in dem Schmerzlichen der Erscheinung. Er mühte sich,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 148. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_148.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)