Seite:Die Gartenlaube (1890) 124.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)


im wesentlichen nur aus Treppenhaus, Betsaal und Halle bestehende Erdgeschoß, und wenn dieses letztere, mit Ausnahme von Obadjas Wohnzimmer, lediglich kirchlichen oder gelegentlich gesellschaftlichen Zwecken diente, so gehörte das, was eine Treppe hoch lag, dem häuslichen Leben, der Gemütlichkeit, der Familie. Beide Hälften des Oberstockes, zwischen denen ein großer quadratischer Flur lag, waren durch einen schmalen Mittelgang wieder in eine Reihe Vorder- und Hinterzimmer geteilt, von denen alle linksseitigen von Ruth, Toby und ihrer alten polnischen Dienerin Maruschka bewohnt wurden, während alles an der entgegengesetzten Seite Gelegene die Gast- und Fremdenzimmer umschloß. Eines derselben war für Lehnert bestimmt morden und lag dem Zimmer gegenüber, das von Monsieur L´Hermite bewohnt wurde.

Als man oben war, ging Ruth, sich verabschiedend, nach links hin den Gang, hinunter, während Toby Lehnerts Hand nahm und ihn nach der anderen Seite hin auf einen in Dämmerlicht liegenden Korridor zuführte. Nur am Ende desselben war ein Lichtschein. Dieser kam aus Monsieur L´Hermites Zimmer, das meist offen stand und dem Korridor nicht bloß einiges von seiner Helle, sondern, nicht eben zur Freude der anderen Hausbewohner, auch viel von dem „Korporal“ mittheilte, der beständig darin geraucht wurde. Lehnert warf, als er bis heran war, einen Blick in das Zimmer hinein und sah einen hageren Mann von Mitte der fünfziger, mit Zwickelbart und Käppi, der, an einem Schraubstock beschäftigt, eben in scharfem Profile sichtbar wurde. Auch L´Hermite sah von der Arbeit auf und schob das Käppi nach hinten, was einen Gruß bedeuten, aber auch bloße Neugier sein konnte. Weiter darüber nachzudenken, verbot sich, denn Toby hatte die gerade gegenübergelegene Thür geöffnet und trat ein, während Lehnert folgte.




(Fortsetzung folgt.)


Roberts erste Liebe.

Eine Faschingsgeschichte von Hans Arnold.
Mit Zeichnungen von R. Gutschmid.


Die Welt stand im Zeichen des Pfannkuchens! Der Fastnachtsdienstag winkte in allernächster Nähe, und groß und klein wurde von einer unbezwinglichen Sucht ergriffen, sich zu maskiren!

Auch das Haus des Doktors Rademann entging der allgemeinen Epidemie nicht, - ja sie trat dies Jahr sogar in ein ernsteres Stadium! Hatten sich bisher die Kinder des Hauses damit begnügt, alte Hüte von der Mutter aufzusetzen, den Pelz des Vaters verkehrt umzunehmen, oder höchstens, als besonders ausgesuchtes Vergnügen, sich ihre gegenseitigen Kleider anzuziehen und mit einer einzigen Larve, die allen gemeinsam gehörte und aus unbekannten Zeiten stammte, die Wohnung zu durchrasen, überzeugt, ganz unkenntlich zu sein, so war in diesem Jahr eine Einladung zum Kindermaskenball an die Familie ergangen und soeben erst angenommen worden.

Die verspätete Zusage - sehr kurz vor dem festlichen Tage - hatte ihren Grund in dem durchaus gerechtfertigten Abscheu des Vaters gegen Kinderbälle in jeder Form - ein Abscheu, der von seiner Frau theoretisch so lange aufs tiefste geteilt wurde, als die Versuchung, ihre Kinder zu maskieren, nicht praktisch an sie herangetreten war.

Das Fünkchen weiblicher Eitelkeit aber, welches im Herzen jeder Mutter schlummert, war bei dem Gedanken, Robert, Tony und Minchen in Charakterkostümen glänzen zu sehen, zu verzehrender Flamme aufgelodert, in der die Einwände des Gatten wie Flor verbrannten und zu nichts wurden.

Das zweite Hinderniß war schwieriger zu besiegen gewesen. Robert, der Quartaner, befand sich in dem Stadium, in welchem Jungen alle Versuche, ihre äußeren Reize durch Toiletenkünste zu erhöhen, für etwas Unmännliches und Verächtliches ansehen, und die freundliche Einladung zum „Kindertänzchen“, wie in diesem Fall der Kunstausdruck hieß, hatte bei dem Erstgeborenen des Hauses ein dumpfes Wutgeheul zur Folge: „Ich gehe nicht - fällt mir gar nicht ein!“

Der Vater war auf Roberts Seite, erstens aus den bereits vorher erwähnten pädagogischen Grundsätzen überhaupt, und zweitens, weil er nach seiner ungalanten Bemerkung der Ansicht war: „Meine Mädel sind von Natur Affen - das liegt in der Eigentümlichkeit des weiblichen Geschlechts - warum ich mir aber den Jungen künstlich zum Affen machen lassen soll, das sehe ich nicht ein!“

Wenn uns nun jemand fragt, wie Roberts moralischer Widerstand gegen das "Vergnügen" schließlich gebrochen wurde, so müssen wir allerdings beschämt bekennen, daß sich sein männliches Herz gegen Bestechungsversuche nicht gestählt erwies, und daß die verlockende Verheißung eines neuen Taschenmessers mit zwei Klingen, wie Robert deren durchschnittlich zwölf im Jahr mit Entzücken zu bekommen und mit Thränen zu verlieren pflegte, seine Abneigung gegen gesellige Freuden überwand, so daß auch er seine Persönlichkeit in den Dienst des Karnevals stellte.

Die Frage der Kostümirung erregte demnächst noch einen „Sturm im Wasserglase“. Der Vater hielt sein Portemonnaie mit Hartnäckigkeit zu, da er für dergleichen Unsinn keinen Pfennig übrig zu haben behauptete, und die Doktorin mußte mit allem Scharfsinn, der weiblichen Herzen zu Gebote steht, aus dem Vorhandenen Neues zu schaffen suchen. Die Wahl der Verkleidung wurde denn diesem „Vorhandenen“ durchaus angepaßt.

Robert sollte auf Rechnung eines großen Filzhutes, der von Generation zu Generation als auffällig beiseite geschoben worden war, als Fuhrmann erscheinen - ein Kostüm, das um so leichter zu beschaffen war, als ein biederes Nachthemd, mit rothwollenem Band besetzt, und ein Paar lederne Schulunaussprechliche den übrigen Anzug vervollständigten. Da Robert noch die Stallpeitsche in der Hand trug, so war die historische Treue des Kostüms auffallend - wer sich einen Fuhrmann anders gedacht hatte, der konnte uns eben aufrichtig leid thun und mußte sich mit seiner Enttäuschung abfinden, so gut er es imstande war.

Minchen war mit ähnlich einfachen Hilfsmitteln zu einem Bauernmädchen umgewandelt worden, wobei ihr das Vorhandensein eines alten, schwarzen Sammetmiederchens mit goldenen Knöpfen, in dem die Mutter vor etwa fünfundzwanzig Jahren als Bäuerin auf einem Polterabend geglänzt hatte, ein bedeutendes Uebergewicht über ihre Geschwister verlieh.

Was endlich Tony, die Fünfjährige, betraf, so hatte man aus einem Stück Möbelkattun, das sich noch vorfand, einen herrlichen Hanswurstanzug für sie geschneidert, der, mit Schellenkappe und Pritsche vervollständigt, Tony zum Glanzpunkt der Familie erhob.

Die Mutter, mit dem stolzen Gefühl: „und ich, die all dies Herrliche vollendet“ - putzte eben ihre Gesellschaft an, die sich nach kindlicher Sitte bei grellem Tageslichte in den Ballsaal begeben sollte.

Robert war sich äußerst peinlich in seiner Maske und nahm jeden ihm vom Dienstpersonal oder den Schwestern geschenkten Blick lächelnder Bewunderung als tödliche Beleidigung auf, die er durch wütendes Anrennen mit gesenktem Kopf rächte, so daß der Vater ihm die Versicherung gab, als zorniger Ziegenbock würde er sich viel naturgetreuer machen wie als Fuhrmann, da ein solcher sich gesitteter zu betragen pflege.

Minchen stand in seliger Selbstversunkenheit vor dem Spiegel und betrachtete ihr eigenes Bild, wobei nur düstere Zweifel ihre Seele bewegten, ob sie nicht „was um den Hals“ haben müßte - eine Anmaßung, welcher die Mutter durch die mehr kühnen als begründeten Worte: „Bäuerinnen haben nie etwas um den Hals!“ ein schnelles und beschämendes Ende bereitete.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_124.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)