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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Quitt.

Roman von Theodor Fontane.
(Fortsetzung.)

In der großen Stube des Gerichtskretschams hatte man den Todten auf eine Tischplatte gelegt und ihn bis hoch hinauf mit neu abgebrochenem Gezweige bedeckt; nur Brust und Kopf waren frei. Klose trat heran und hatte vor, mit der Protokollaufnahme zu beginnen. Aber der Marsch im Sonnenbrand war doch so beschwerlich gewesen, daß er davon Abstand nehmen und nicht bloß um der andern, sondern auch um seiner selbst willen ein kurzes Ausruhen in einer kühlen schattigen Rebenstube vorschlagen mußte, welche Pause dann freilich von der draußen harrenden Menge sofort dazu benutzt wurde, in den bis dahin abgesperrten Saal vorzudringen. Auch Lehnert war unter denen, die sich herzudrängten, blieb aber in Nähe der Thür und mied es, vor das Angesicht des Todten zu kommen.

In der kühlen schattigen Nebenstube hatte sich inzwischen alles zusammengefunden, was zur Obrigkeit gehörte, Fragen und Vermuthungen aller Art, wie sich denken läßt, waren ausgetauscht worden, und als schließlich auch einige Gerichtspersonen von Arnsdorf und Giersdorf her erschienen, trat Klose von der Rebenstube her wieder in den Saal und sagte: „Wir wollen nun anfangen. Ich werde Fragen stellen und drüber wegsehen, daß hier ihrer viele sind, die besser draußen wären und geduldig abgewartet hätten, ob wir ihrer Aussage vielleicht bedürfen werden. Zunächst aber geben wir dem Todten das Wort. Sein Blut verklagt seinen Mörder. Er hat aber auch gesprochen, als er noch bei Leben war, und seine letzten Worte halte ich hier in Händen.“

Und der alte Gerichtsmann zog ein Notizbuch aus der Tasche, das er unmittelbar nach Auffindung des Todten zu sich gesteckt und gleich danach, am ersten Rastplatz schon, einer flüchtigen Einsicht unterzogen hatte.

Dies ist Opitz’ Notizbuch,“ fuhr er fort. „Als Opitz wußte, daß er in aller Einsamkeit sterben müsse, hat er mit schwerer Hand seinen letzten Willen hier eingeschrieben. Alles nur kurz und abgerissen und Blutstropfen dazwischen.“

Alles drängte bei diesen Worten näher, und die zu hinterst standen, hoben sich auf die Fußspitzen, um kein Wort zu verlieren.

„Die Kräfte verlassen mich,“ so begann jetzt der alte Gerichtsmann aus Opitz’ Notizbuch vorzulesen. „Geschossen bin ich um die neunte Stunde . . . Wenn ich sterben sollte, eh’ ich gefunden werde, so wisse man, daß ich von einem Wilddiebe geschossen bin, der war ganz nahe mit Doppelflinte, wahrscheinlich ein Böhmischer, ziemlich groß in braunem Rock und Hut und falschem Bart .. . Eltern und Geschwister, lebet wohl, und Du, meine gute Frau, der ich viel abbitte, lebe wohl! Ich bitte den Herrn Grafen, daß er Euch versorge, da ich mein Blut in seinem Dienst vergossen habe . . . Lebet wohl; Gott sei mir gnädig! Betet für mich! Ich habe große Schmerzen. Guter Gott, erbarme Dich meiner. Herr Graf, sorge für die Meinigen, ich habe mein Blut für Dich vergossen . . . Ich schreie so sehr und habe mein Gewehr abgeschossen, daß man mich höre, aber kein Mensch hört mich. O Gott, erlöse mich! Betet für mich und denket nicht auf Rache . . . Gott vergebe meinem Mörder und erbarme sich meiner . . . Meine Leiden sind groß.“

Als Gerichtsmann Klose diese seine Vorlesung geschlossen und das Notizbuch wieder zu sich gesteckt hatte, ging ein Gemurmel durch den Saal. Es war das Gemurmel der Theilnahme, der Zustimmung, des Erschüttertseins. Opitz war wenig beliebt gewesen und unter denen, die da standen, Männer und Frauen, waren viele, die seinen Tod mehr als einmal gewünscht hatten; aber nach Anhörung dieser Worte regte sich doch das Mitleid. Und daß er so sehr für seine Frau bat, für dieselbe Frau, der er viel Herzeleid angethan hatte, der er nun aber auch abbat, das versöhnte mit ihm, und eine der Frauen sagte: „Wer das gedacht hätt’.“

Der alte Gerichtsmann unterbrach diese dem Todten so günstige Stimmung nicht, und erst als sich die Erregung gelegt hatte, nahm er die Verhandlung wieder auf: „Und nun frag’ ich nach dem Mörder! Wer war es? In dem Notizbuch heißt es, daß es ein Böhmischer war . . . Ich glaube nicht, daß es ein Böhmischer war; ich glaube, daß wir ihn hier auf unserer Seite suchen müssen und daß er, wenn wir alles sehen könnten, was sich klug verbirgt, daß er vielleicht in diesem Saale zu finden wäre.“

Während Klose so sprach, sah er absichtlich nur auf den Todten und vermied es, weil er nicht vor der Zeit den ganz bestimmten Ankläger machen wollte, nach der Stelle hinzusehen, wo Lehnert stand. Aber seine Vorsicht war nicht mehr von nöthen; inmitten der Aufregung, welche durch die Vorlesung der Notizbuchblätter hervorgerufen worden war, hatte sich Lehnert aus dem Saal entfernt, unbekümmert darum, ob sein Verschwinden auffallen werde oder nicht.


13.

Vom Gerichtskretscham aus bis zum „Goldenen Frieden“ war die Dorfstraße leer, und erst als Lehnert an dieser Stelle links einbiegen und auf dem mehrerwähnten Schlängelpfade nach dem tiefer gelegenen Wolfshau hinunter wollte, sah er Frau Opitz auf eben diesem Schlängelpfade herankommen und trat seitab in den Schatten eines hier stehenden Schuppens, um nicht gesehen zu werden. Frau Opitz sah ihn auch wirklich nicht und schritt ihrerseits auf den Gerichtskretscham zu, wo sie, wie man ihr in Wolfshau gesagt hatte, den Todten finden würde. Jeder war erschüttert, als sie hier in den Saal trat und dem Todten das Haar aus der Stirn strich und ihn küßte, und wenn sich schon vorher ein Stimmungsumschlag zu Gunsten Opitz’ gezeigt hatte, so vollends jetzt. Die Männer hielten wohl noch zurück, aber die verheiratheten Frauen fuhren mit dem Schürzenzipfel nach dem Auge, wenn sie nicht geradezu schluchzten und weinten. Einige drängten sich an die nun Verwitwete heran und baten, sie nach Hause begleiten zu dürfen, wobei sie hoffen mochten, noch ’was Besonderes zu hören. Die gute Frau war aber entweder zu schwach oder wollte sich nicht von dem Todten trennen, jedenfalls nahm sie statt der Anerbietungen ihrer Wolfshauer Nachbarsleute lieber das Anerbieten der Kretschamwirthin an und setzte sich zu dieser in die Küche. Das geschäftige Treiben hier that ihr wohl und zerstreute sie, denn sie hatte den Hausfrauensinn, der sich auch in diesem Augenblicke nicht verleugnete.

Drinnen im Saale war mittlerweile das Bild ein anderes geworden. Es gab nichts mehr zu hören und zu sehen, und so verliefen sich die bloß aus Neugier Herzugeströmten, und nur die, die wegen des Protokolls pflichtmäßig zu bleiben hatten, blieben noch und suchten sich über einige fragliche Punkte zu einigen. Die That selbst lag klar vor. Aber die Frage „wer“ blieb durchaus unentschieden und wurde durch Opitz’ Aufzeichnungen, der auf einen „Böhmischen“ gerathen hatte, mehr verwirrt als aufgeklärt.

„Es war kein Böhmischer,“ wiederholte Gerichtsmann Klose, der seinen ohnehin starken Verdacht gegen Lehnert durch das plötzliche Verschwinden desselben nur noch bestätigt sah, „es war kein Böhmischer, und wenn ich Bestimmung zu treffen hätte, so brächen wir in dieser Minute noch auf, um Lehnert Menz in Verhaft zu nehmen. Alles deutet auf ihn, auf ihn und keinen andern. Er hat Sonnabend sechs Uhr Wolfshau verlassen, ist das Gehänge hinaufgestiegen, und die Schulkinder haben ihn gesehen. Um acht Uhr muß er oben gewesen sein, um neun Uhr ist es geschehen, um zehn Uhr war er auf der Hampelbaude. Niemand anders ist im Wald oben betroffen worden. All das sagt genug. Zudem wissen wir, daß er noch von 1870 her einen Span mit Opitz hatte, und als vorhin alles, was draußen war, in den Saal drängte, hat er immer im Hintergründe gestanden, statt mit in vorderster Reihe zu stehen, wie doch sonst wohl seine Art ist; und als das Notizbuch von mir vorgezeigt und sein Inhalt verlesen wurde, da hat er’s nicht ertragen können und ist davongegangen. Das alles hat mir den Beweis gegeben. Und ich wiederhole, der, der diesen Mord auf seine Seele geladen hat, ist kein anderer als Lehnert Menz.“

Die Mehrzahl stimmte zu. Nur der jüngere Gerichtsmann, der in einer Art Eifersucht gegen den alten Klose war, unterhielt allerlei Zweifel, oder gab es wenigstens vor, und brachte diese Zweifel auch zum Ausdruck. Alles, was eben gesagt worden, sei, seiner Ansicht nach, viel zu schwach, um darauf hin eine Verhaftung vornehmen zu können. Es lasse sich schlechterdings nicht sagen, niemand anders sei oben im Gebirge gewesen, im Gegentheil, man wisse nie, wer oben gewesen und wer nicht. Lehnert

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_115.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)