Seite:Die Gartenlaube (1890) 101.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Halbheft 4.   1890.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahrgang 1890.      Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.


Flammenzeichen.

Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Rojanow zog den Riemen seiner Flinte fester und deutete auf einen kleinen, halb verwachsenen Pfad, der ungefähr die Richtung einhielt, in welcher Fürstenstein lag. Er schlug ihn ohne weiteres ein, entschlossen, seine Führerrolle zu behaupten, denn das Abenteuer begann ihn zu reizen.

Seine Schutzbefohlene war allerdings schön genug, um ihm diese Begegnung interessant zu machen. Das reine, zarte Oval des Gesichtes, die hohe, klare Stirn, von mattschimmerndem blonden Haar umgeben, die Linien der Züge, das alles war von vollendetem Ebenmaße; aber es lag etwas Erkältendes in der strengen Regelmäßigkeit dieser Formen, das durch einen Zug energischer Willenskraft, der deutlich hervortrat, eher gesteigert als gemildert wurde. Die junge Dame konnte höchstens achtzehn oder neunzehn Jahre alt sein, aber sie besaß nichts von jenem unsagbaren Reiz, der diesem Alter eigen zu sein pflegt, nichts von jener Heiterkeit und Unbefangenheit, die ein junges, noch von keinem Schatten des Lebens berührtes Wesen so lieblich erscheinen läßt wie eine Blume, die sich eben erst dem Lichte erschließt. Die großen blauen Augen blickten so kalt und ernst, als hätte sie nie ein Mädchentraum verklärt, und derselbe stolze, kalte Ernst verrieth sich in der Haltung und der ganzen Erscheinung. Es ging wie ein kühler Hauch aus von dieser hohen, schlanken Gestalt, deren einfache, aber gewählte Kleidung zeigte, daß sie den höheren Ständen angehörte. – Rojanow hatte Zeit und Muße genug, sie zu betrachten, während er, bald vor, bald hinter ihr schreitend, die oft tief niederhängenden Zweige zurückbog oder vor einer Unebenheit des Bodens warnte. Bequem war dieser schmale Waldpfad allerdings nicht und für die Toilette einer Dame erwies er sich auch nicht vortheilhaft. Ihr Kleid blieb mehr als einmal an dem Gestrüppe hängen, der Schleier ihres Hutes wurde bei jeder Gelegenheit von den Gebüschen erfaßt und festgehalten, während der moosige Boden sich stellenweise als sehr feucht und sumpfig zeigte. Das wurde zwar alles mit vollster Gelassenheit ertragen, aber Hartmut fühlte es doch, daß er mit seiner Führerschaft keine besondere Ehre einlegte.

„Ich bedaure, Ihnen einen so unbequemen Weg zumuthen zu müssen, mein Fräulein,“ sagte er artig. „Ich fürchte wirklich, Sie zu ermüden; aber wir sind mitten im tiefsten Walde, und da hat man überhaupt keine Wahl.“

„Ich ermüde nicht so leicht,“ war die ruhige Antwort, „und ich frage wenig nach den Unbequemlichkeiten eines Weges, wenn er nur zum Ziele führt.“

Die Bemerkung klang etwas ungewöhnlich in dem Munde eines jungen Mädchens; Rojanow schien das auch zu finden und er lächelte ein wenig spöttisch, als er wiederholte:

„Wenn er nur zum Ziele führt! Ganz recht, das ist auch meine Ansicht; aber Damen

Fastnachtssingen in der Neumark.
Zeichnung von E. Henseler.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_101.jpg&oldid=- (Version vom 17.5.2023)