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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Lehnert hatte die Schlußzeilen unwillkürlich mitgesungen und wiederholte sie sich, als ob er in diesem Augenblicke schon ein tiefstes Heimweh in seinem Herzen empfunden hätte.

Dabei war er bis an den Wildzaun gekommen, bis an das Gatter, aus dem die Mädchen eine kleine Weile vorher herausgetreten waren. Er öffnete jetzt seinerseits das aus Holzstämmen zusammengefügte, schwer in den Angeln gehende Thor und ließ es wieder ins Schloß fallen, und der Ton, mit dem es einklinkte, durchfuhr ihn und ließ ihn zusammenschauern. Er war nun drin in dem Waldgehege. Was war geschehen? oder doch vielleicht, wenn er wieder heraustrat? Aber er entschlug sich solcher Gedanken und schritt die geradlinige, steile Straße hinauf, das „Gehänge“, das hier am Gatter seinen Anfang nahm und abwechselnd an hochstämmigem Wald und niedriger Kusselheide vorüberführte. Dann und wann kamen auch Wiesenstreifen und Streifen von Moorgrund. Es war jetzt um die siebente Stunde und hier oben herrschte schon Dämmer und abendliches Schweigen und nur dann und wann hörte man das Klucken und Glucksen eines bergabschießenden Wasserlaufes oder eine vereinzelte Vogelstimme. Kein Schmettern oder Singen, nur etwas, das wie Klage klang. Am Himmel, der hell leuchtete, wurde die Mondsichel sichtbar, ein blasser Ring, und einmal war es Lehnert, als ginge wer neben ihm her. Aber es war eine Sinnestäuschung, und wenn er seinen Schritt anhielt, schwieg auch der begleitende Schritt im Walde.

So war er, das „Gehänge“ hinauf, schon bis ziemlich hoch gekommen und durch eine bergan steigende Lichtung im Walde konnt’ er bereits den Gebirgskamm in aller Deutlichkeit erkennen. Er sah aber nicht lange hinauf, sondern setzte sich, plötzlich der Ruhe bedürftig, auf eine Bank, die man hier, wohl zu Nutz und Frommen bergansteigender Sommergäste, zwischen zwei dicht nebeneinander stehenden Tannen angebracht hatte. Das dachartig überhängende Gezweige war Ursache, daß es um die ganze Stelle her schon dunkelte, trotzdem war es noch hell genug, um alles Nächstliegende deutlich erkennen zu können. An der anderen Seite des Weges sprang ein Quell aus einer nur wenig übermannshohen Felswand, und der Umstand, daß man dem Quell eine zierliche Holzrinne gegeben und ihn in einen von Moos überwachsenen Steintrog geleitet hatte, gab diesem Rastplatz etwas von einem Waldidyll, An dem Steintroge vorbei zog sich, nicht allzu weit unter dem Kamm hin, ein dem Zuge desselben folgender Pfad, der zuletzt auf die Hampelbaude zulief.

Lehnert wußte hier Bescheid auf Schritt und Tritt und hatte manch liebes Mal auf dieser Bank gesessen und nach dem Quell hinübergesehen und gehorcht, ob vielleicht Opitz aus dem Unterholz heraustreten würde. Fast zu gleichem Zwecke saß er wieder hier, und als sich’s drüben einen Augenblick wie regte, schoß ihm das Blut zu Kopf und er griff unwillkürlich nach links, wie wenn er, der doch noch ohne Waffe war, das Gewehr von der Schulter reißen wollte. Rasch aber entschlug er sich seiner Erregung wieder und an ihre Stelle trat ein Lächeln.

Er wurd’ überhaupt wieder unsicher und verlangte, von der Begegnung ganz abgesehen, nach einem Zeichen, das ihm sage, was er zu thun habe. So brach er denn einen dürren Zweig ab und machte zwei Lose daraus, in Länge nur wenig von einander unterschieden, und that beide in seinen Hut. Und nun schüttelte er und zog und maß. Er hatte das etwas längere Stück gezogen. „Gut denn . . . es soll also sein . . . “ und mit einer Raschheit, in der sich die Furcht vor einem abermaligen Schwanken und Unschlüssigwerden aussprach, erhob er sich von seiner Bank und schlängelte sich mit einer Findigkeit, die deutlich sein Zuhausesein an dieser Stelle zeigte, durch allerhand dichtes Unterholz bis auf eine Waldwiese, die nach der einen Seite hin, ganz besonders aber in der Mitte mit, riesigen Huflattichblättern überwachsen war, während sie nach der anderen Seite hin in buschhohem Farrenkraut stand, das sich heckenartig an einer niedrigen Felswand entlang zog. In dieser Buschhecke war nirgends ein Einschnitt, weshalb Lehnert, der dies sehr wohl wußte, seinen Eingang von der Seite her nahm und sich zwischen dem Farrenkraut und der Felswand hindurchdrängte, mit seiner Rechten an dem Gesteine beständig hintastend. Als er bis in die Mitte gekommen, war auch die Felsspalte da, nach der er suchte, freilich nur schmal und eng. Er streifte deshalb den Aermel in die Höh’, um bequemer mit Hand und Unterarm hinein zu können, und nahm, als ihm dies gelungen, aus einer in der Felsspalte befindlichen Rische sein Doppelgewehr heraus, das hier, bis an den Kolben in ein Futteral von Hirschleder gesteckt, seinen Versteck hatte. Gleich danach hielt er auch Pulverhorn und Schrotbeutel in Händen, und abermals einen Augenblick später riß er von einem der von seiner Wohnung her mitgenommenen allen Kalenderblätter einen breiten Streifen ab, der als Schußpfropfen dienen sollte, lud beide Läufe, setzte die Zündhütchen auf und hakte das mit zwei Drahtösen versehene Stück Werg, das ein falscher Bart war, über die Ohrwinkel. Und nun wand er sich, wie vorher zu dem Versteck hin, so jetzt mit gleicher Raschheit durch Farrenkraut und Unterholz zurück und trat wieder auf die große Straße hinaus. Er war derselbe nicht mehr. Der flachsene Vollbart, der aus Zufall oder Absicht tief eingedrückte Hut, der Doppellauf über der Schulter – das alles gab ein Bild, das in nichts mehr an den Lehnert erinnerte, der vor einer Viertelstunde noch, schwankend und unsicher, auf der Bank am Quell gesessen hatte.

„Nun soll’s kommen,“ sprach er vor sich hin und stieg höher hinauf, auf den Grat des Gebirges zu.

* * *

Stiller wurd’ es und niemand begegnete ihm. Nur ein-! mal trat ein Rehbock auf eine Lichtung und stand und Lehnert griff schon nach dem Gewehr, um anzuschlagen. Aber im nächsten Augenblicke war er wieder anderen Sinnes geworden. „Nein, nicht so. Sein Schicksal soll über ihn entscheiden, nicht ich. Ich will ihn nicht Heranrufen; ich hab’ es in eine höhere Hand gelegt.“ Und sein Gewehr wieder über die Schulter hängend, schob er sich weiter an den Tannen hin. Aber es waren ihrer nicht allzu viele mehr, immer lichter wurd’ es zwischen den Stämmen, und kaum hundert Schritte noch, so lag der Wald zurück und ein breites Stück Moorland that sich auf, durch das jetzt mittenhindurch der Weg unmittelbar auf den Grat hinaufführte. Wo der Torf nicht zu Tage lag, war alles von einem gelben, sonnverbrannten Gras überwachsen, dazwischen aber blinkten Sumpf und Wasserlachen, auf deren schwarzer Fläche die Mondsichel sich spiegelte. Kein Leben, kein Laut. Aber während Lehnert dieser Lautlosigkeit noch nachhorchte, klang plötzlich durch die tiefe Stille hin ein helles Läuten herauf.

„Das ist das Kapellchen unten. Das fängt an und läutet den Sonntag ein.“

Und wirklich, ehe noch eine Minute vergangen war, fiel das ganze Thal mit all seinen Kirchen- und Kapellenglocken ein und wie im Wettstreit klangen die Tonwellen mächtig und melodisch bis auf den Koppengrat hinauf. Und nun war auch Lehnert oben und, sah hinab. Der Mond gab eben Licht genug, ihn unten im Thal, drin eben ein dünner Nebel aufstieg, alles wie in einem halben Dämmer erkennen zu lassen. Lange sah er hinab, bis das weite Thal unten nichts mehr als eine Nebelkufe war. Nur um ihn her war noch klare Luft und die Mondsichel blinkte.

„Wohin?“

Er sah nach links hin, den Grat entlang, und bemerkte das Licht, das oben auf der Koppe schimmerte.

„Wenn ich mich ’ran halte, bin ich in zwanzig Minuten oben . . . Und dann bin ich ihm nicht begegnet. Aber warum nicht? Weil ich ihm nicht begegnen konnte, weil ich ihm aus dem Wege gegangen bin. Ist das das Rechte? Heißt das sein Schicksal befragen? Ich darf ihm nicht aus dem Wege gehen, das ist kein richtig Spiel; ich muß dahin, wo sich’s begegnen läßt . . . Da ist mein Platz.“

Und rasch entschlossen, wandt’ er sich wieder und schritt denselben Weg zurück, auf dem er gekommen war.

So lang er das Moor und seine freie Fläche zu Seiten hatte, hing er allerhand Träumereien nach, kaum aber war der Hochwald wieder um ihn her, so schien auch sein Auge zwischen den Stämmen hin das Dunkel durchdringen zu wollen. Aber es blieb trotzdem wie’s war und er war schon wieder bis an jene Wegstelle gekommen, wo sich die Bank befand und der Quell in den Steintrog fiel, ohne daß sich etwas geregt oder ihm auch nur im geringsten die Gegenwart seines Gegners verrathen hätte. „Was soll er auch hier auf der großen Straße? Feigheit, nichts als Feigheit!“ Und sich von der Bank her, drauf er abermals eine kurze

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