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verschiedene: Die Gartenlaube (1890)


„Natürlich! Sie sind ja alle, alle im Komplott miteinander, wenn es gilt, mir mein Kind zu entreißen – und Dein Vater? Er hat wohl wieder gedroht und gestraft und Dich das schwere Verbrechen büßen lassen, daß Du in den Armen Deiner Mutter gelegen hast?“

Hartmut schüttelte den Kopf. Die Erinnerung an jenen Augenblick, wo der Vater ihn an seine Brust zog, hielt doch stand, trotz all der Bitterkeit, in der jene Scene schließlich geendigt hatte.

„Nein,“ sagte er leise, „aber er verbot mir, Dich wiederzusehen, und forderte unerbittlich die Trennung von Dir.“

„Und trotzdem bist Du hier! O, ich wußte es ja!“

Es klang wie jubelndes Frohlocken in den Ausruf.

„Triumphire nicht zu früh, Mama!“ sagte der junge Mann bitter. „Ich komme nur, um Abschied zu nehmen.“

„Hartmut!“

„Der Vater weiß darum, er hat mir dies Lebewohl gestattet und dann –“

„Dann will er Dich wieder an sich reißen und Du sollst mir verloren sein für immer! Ist es nicht so?“

Hartmut antwortete nicht, er umklammerte mit beiden Armen die Mutter und ein wildes, leidenschaftliches Schluchzen kam aus seiner Brust, das ebensoviel von Groll und Bitterkeit als vom Schmerz hatte.

Es war in zwischen völlig dunkel geworden, die Nacht brach an, eine kalte, düstere Herbstnacht, ohne Mond- und Sternenglanz, aber dort auf der Wiese, wo vorhin die weißen Dunstschleier wallten, fing es jetzt an, sich zu regen. Es zuckte etwas auf, mit bläulichem Schimmer, das anfangs nur matt durch den Nebel blinkte und dann heller und klarer leuchtete wie eine Flamme.

Jetzt verschwand es, jetzt tauchte es wieder auf und mit ihm ein zweites und drittes – die Irrlichter begannen ihr gespenstiges, unheimliches Spiel.

„Du weinst?“ sagte Zalika, ihren Sohn fest an sich pressend. „Ich habe das längst kommen sehen, und selbst wenn der junge Eschenhagen uns nicht verrathen hätte, an dem Tage, da Du zu Deinem Vater zurückkehren solltest, wärst Du doch vor die Wahl gestellt worden zwischen Trennung oder – Entschluß.“

„Welchen Entschluß? Was meinst Du?“ fragte Hartmut betroffen.

Zalika beugte sich zu ihm nieder, und obwohl sie allein waren, sank ihre Stimme doch zu einem Flüstern herab.

„Willst Du Dich wehrlos und willenlos einer Tyrannei beugen, die das heilige Band zwischen Mutter und Kind zerreißt und unser Recht wie unsere Liebe mit Füßen tritt? Wenn Du das kannst, dann bist Du nicht mein Sohn, dann hast Du nichts geerbt von dem Blute, das in meinen Adern rollt. Er sandte Dich, um mir Lebewohl zu sagen, und Du nimmst das wie eine letzte Gnade geduldig hin? Du kommst wirklich, um Abschied von mir zu nehmen auf Jahre hinaus, wirklich?“

„Ich muß ja!“ unterbrach sie der junge Mann verzweiflungsvoll. „Du kennst den Vater und seinen eisernen Willen, giebt es eine Möglichkeit, sich dagegen aufzulehnen?“

„Wenn Du zu ihm zurückkehrst – nein! Aber wer zwingt Dich denn dazu?“

„Mama! Um Gotteswilien!“ fuhr Hartmut entsetzt auf, aber die umschlingenden Arme ließen ihn nicht, und das heiße, leidenschaftliche Flüstern drang wieder zu seinem Ohre.

„Was schreckt Dich denn so bei dem Gedanken? Du sollst ja nur mit Deiner Mutter gehen, die Dich grenzenlos liebt und hinfort nur für Dich leben wird. Du hast es mir ja oft geklagt, daß Du den Beruf hassest, der Dir aufgezwungen werden soll, daß Du Dich verzehrst in der Sehnsucht nach Freiheit. Wenn Du zurückkehrst, giebt es keine Wahl mehr für Dich, Dein Vater wird Dich unerbittlich festhalten an jener Kette, und wenn er wüßte, daß Du daran stürbest, er gäbe Dich doch nicht frei.“

Sie hätte ihrem Sohne das nicht erst zu sagen brauchen, er wußte es besser als sie, hatte er doch vor kaum einer Stunde die ganze Unbeugsamkeit des Vaters kennen gelernt, dies harte: „Du sollst gehorchen und Dich beugen lernen!“ gehört. Seine Stimme erstickte fast in Bitterkeit, als er antwortete:

„Gleichviel, ich muß zurück! Ich habe mein Wort gegeben, in zwei Stunden wieder in Burgsdorf zu sein.“

„Wirklich?“ fragte Zalika scharf und hohnvoll. „Ich dachte es mir! Sonst darfst und sollst Du ja nichts anderes sein als ein Knabe, dem jeder Schritt vorgezeichnet, jede Minute berechnet wird, der nicht einmal einen eigenen Gedanken haben darf; aber sobald es gilt, Dich festzuhalten, gesteht man Dir die Selbständigkeit des Mannes zu. Nun wohl, so zeige es, daß Du nicht bloß in Worten mündig bist, und handle auch als Mann! Ein erzwungenes Versprechen hat keinen Werth, zerreiße diese unsichtbare Kette, an der man Dich halten will, und mach Dich frei!“

„Nein – nein!“ murmelte Hartmut mit einen erneuten Versuch, sich loszumachen. Es gelang ihm nicht, er wandte nur das Gesicht ab und starrte mit heißen Augen hinaus in die Nacht, in das öde schweigende Waldesdunkel und hinüber, wo die Irrlichter noch immer ihren Gespensterreigen führten. Ueberall tauchten jetzt die zuckenden, zitternden Flammen auf, die sich zu suchen und zu fliehen schienen, sie schwebten über den Boden hin und versanken dann oder zerflatterten in dem Nebelmeer, um immer wieder von neuem zu erstehen. Es lag etwas Grauenhaftes und doch zugleich etwas seltsam Lockendes in diesem geisterhaften Spiel, der dämonische Zauber der Tiefe, die jener trügerische Moorgrund barg.

„Komm mit mir, mein Hartmut!“ bat Zalika jetzt in jenen süßen Schmeichellauten, die ihr wie dem Sohn so allmächtig zu Gebote standen. „Ich habe längst alles vorgesehen und vorbereitet; ich wußte es ja, daß ein Tag wie der heutige kommen müsse. Eine halbe Stunde von hier hält mein Wagen, er bringt uns nach der nächsten Eisenbahnstation, und ehe man in Burgsdorf ahnt, daß Du nicht zurückkehrst, trägt der Kurierzug uns schon hinaus in die Ferne. Dort ist die Freiheit, das Leben, das Glück! Ich führe Dich hinaus in die weite große Welt, und wenn Du sie erst kennen lernst, wirst Du aufathmen und aufjubeln wie ein Erlöster. Ich weiß es ja, wie einem Befreiten zu Muthe ist, ich habe ja auch Ketten getragen, die ich in thörichter Verblendung mir selbst schmiedete, aber ich hätte sie schon im ersten Jahre zerrissen, wenn Du nicht gewesen wärst. O, sie ist süß, die Freiheit, Du wirst es auch noch fühlen!“

Sie wußte nur zu gut den Weg zu finden, der zum Ziele führte. Freiheit, Leben, Glück! Die Worte fanden ein tausendfaches Echo in der Brust des Jünglings, dessen ungestümer Freiheitsdrang bisher gewaltsam niedergehalten worden war. Wie ein leuchtendes Zauberbild, von magischem Glanze umflossen, stand dies verheißene Leben vor ihm. Er brauchte nur die Hand danach auszustrecken, dann war es sein.

„Mein Wort!“ murmelte er, mit einem letzten Versuch, sich aufzuraffen. „Der Vater wird mich verachten, wenn –“

„Wenn Du Dir eine große stolze Zukunft errungen hast?“ unterbrach ihn Zalika leidenschaftlich. „Dann tritt wieder vor ihn hin und frage ihn, ob er es noch wagt, Dich zu verachten! Er will Dich am Boden festhalten und Du hast doch Flügel, die Dich emportragen! Er versteht eine Natur wie die Deinige nicht, wird sie nie verstehen lernen. Willst Du an einem bloßen Worte verkümmern und zu Grunde gehen? Komm mit mir, mein Hartmut, mit mir, der Du alles bist, hinaus in die Freiheit!“

Sie zog ihn fort, langsam aber unwiderstehlich, er sträubte sich wohl noch, aber er riß sich nicht los, und unter dem Flehen, unter den Liebkosungen der Mutter hörte auch allmählich dieses Sträuben auf – er folgte.

Einige Minuten später lag der Weiher ganz einsam. Mutter und Sohn waren verschwunden, ihre Schritte verhallt, rings herrschte Nacht und Schweigen. Nur drüben im Nebeldunst des Moores regte sich noch immer jenes lautlose, geisterhafte Leben. Sie schwebten und zerflatterten, tauchten auf und versanken im ruhelosen Spiel – die geheimnißvollen Flammenzeichen der Tiefe.

(Fortsetzung folgt.)




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