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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)


Hartmut lag noch immer regungslos ausgestreckt und schien diesem Wehen und Flüstern zu lauschen. Verschwunden war die wilde Leidenschaftlichkeit, die Flamme, welche fast unheimlich in seinem Auge aufloderte, als er von dem Raubvogel sprach. Jetzt hingen diese Augen träumerisch an der strahlenben Himmelsbläue und es lag etwas wie verzehrende Sehnsucht in denselben.

Da nahten leise Schritte, fast unhörbar auf dem weichen Waldboden, und in den Gebüschen rauschte es, als streife sie ein seidenes Gewand. Jetzt theilten sie sich, eine Frauengestalt glitt lautlos daraus hervor und blieb dann stehen, den Blick unverwandt auf den jungen Träumer gerichtet.

„Hartmut!“

Der Gerufene fuhr auf und sprang dann rasch empor. Er kannte weder die Stimme noch die fremde Erscheinung überhaupt, aber es war eine Dame, er machte ihr mit vollendeter Ritterlichkeit eine Verbeugung.

„Gnädige Frau –?“

Eine schmale, bebende Hand legte sich rasch und verbietend auf seinen Arm.

„Still, nicht so laut! Dein Gefährte könnte uns hören, und ich habe nur mit Dir zu sprechen, Hartmut, mit Dir allein!“

Sie trat wieder zurück und winkte ihm, zu folgen. Hartmut zögerte einen Augenblick. Wie kam diese Fremde, deren Gesicht dicht verschleiert war, die ihrer Kleidung nach aber den vornehmen Ständen angehörte, an den einsamen Waldweiher, und was bedeutete das „Du“ aus ihrem Munde ihm gegenüber, den sie zum erstenmal sah? Aber das Geheimnißvolle dieser Begegnung begann ihn zu reizen, er folgte.

Sie standen jetzt im Schutze des Gebüsches, wo sie von der andern Seite nicht gesehen werden konnten, und langsam schlug die Fremde den Schleier zurück. Sie war nicht mehr ganz jung, eine Frau von einigen dreißig Jahren, aber das Antlitz mit den dunklen, brennenden Augen besaß einen eigenartigen Zauber, und derselbe Reiz lag in ihrer Stimme, die, wenn auch im Flüsterton, doch in weichen, tiefen Lauten klang, mit fremdartiger Betonung, als sei das Deutsch, das sie vollkommen fließend sprach, nicht ihre Muttersprache.

„Hartmut, sieh mich an! Kennst Du mich wirklich nicht mehr? Hast Du keine Erinnerung aus Deiner Kinderzeit bewahrt, die Dir sagt, wer ich bin?“

Der junge Mann schüttelte langsam verneinend den Kopf, und doch tauchte jetzt eine Erinnerung in ihm auf, undeutlich und traumartig, als höre er diese Stimme nicht zum erstenmal, als habe er dies Antlitz schon einmal gesehen in ferner, ferner Zeit. Halb scheu, halb gefesselt stand er da und blickte auf die Fremde, die jetzt plötzlich beide Arme nach ihm ausstreckte.

„Mein Sohn, mein einziges Kind! Kennst Du Deine Mutter nicht mehr?“

Hartmut zuckte zusammen und wich zurück.

„Meine Mutter ist ja todt!“ sagte er halblaut.

Die Fremde lachte bitter auf, seltsam, es klang genau so wie jenes herbe unkindliche Lachen, das vorhin von den Lippen des Knaben gekommen war.

„Das also war es! Man hat mich todt gesagt. Nicht einmal die Erinnerung an die Mutter wollte man Dir lassen. Es ist nicht wahr, Hartmut, ich lebe, ich stehe vor Dir, sieh mich an, sieh meine Züge, die auch die Deinen sind. Das wenigstens hat man Dir nicht nehmen können. Kind meines Herzens, fühlst Du denn nicht, daß Du zu mir gehörst?“

Hartmut stand noch immer regungslos und blickte in das Antlitz, in dem er wie in einem Spiegel das seinige wiederfand. Es waren dieselben Linien, dasselbe üppige, bläulich schwarze Haar, dieselben großen, nachtdunklen Augen; ja selbst jener seltsame dämonische Ausdruck, der in dem Blick der Mutter wie eine Flamme loderte, glühte bereits als Funke in dem Auge des Sohnes. Die Aehnlichkeit schon bezeugte es, daß sie eines Blutes waren, und jetzt wachte die Stimme dieses Blutes auf in dem jungen Manne. Er forderte keine Erklärungen, keine Beweise, die traumartig verworrenen Erinnerungen aus seiner Kinderzeit wurden plötzlich klar, noch ein kurzes, sekundenlanges Zögern, dann warf er sich in die Arme, die sich ihm entgegenstreckten.

„Mutter.“

In dem Ausrufe lag die ganze glühende Innigkeit des Knaben, der nie gewußt hatte, was es heißt, eine Mutter zu besitzen, und der sich doch danach gesehnt hatte mit der ganzen Leidenschaftlichkeit seiner Natur! Seine Mutter! Jetzt lag er in ihren Armen, jetzt überschüttete sie ihn mit heißen Liebkosungen, mit süßen, zärtlichen Schmeichelnamen, wie er sie nie gehört – es versank ihm alles andere in den Fluthen dieses stürmischen Entzückens.

So vergingen einige Minuten, dann löste sich Hartmut aus den Armen, die ihn noch immer umschlungen hielten.

„Warum bist Du niemals bei mir gewesen, Mama?“ fragte er heftig. „Warum hat man mir gesagt, daß Du todt seiest?“ Zalika trat zurück, in einem Augenblick war all die Zärtlichkeit ausgelöscht in ihren Zügen. es flammte dort auf wie wilder, tödlicher Haß und die Antwort kam fast zischend von ihren Lippen:

„Weil Dein Vater mich haßt, mein Sohn – und weil er mir nicht einmal die Liebe meines einzigen Kindes lassen wollte, als er mich von sich stieß!“

Hartmut schwieg betroffen. Er wußte freilich, daß der Name seiner Mutter nicht genannt werden durfte in Gegenwart des Vaters, daß dieser ihn mit der herbsten Strenge zurückgewiesen hatte, als er es einmal wagte, danach zu fragen, aber er war noch zu sehr Knabe gewesen, um über das „Warum“ nachzugrübeln. Zalika ließ ihm auch jetzt keine Zeit dazu. Sie strich ihm das dichte Lockenhaar von der hohen Stirn, und es flog wie ein Schatten über ihr Gesicht.

„Die Stirn hast Du von ihm!“ sagte sie langsam. „Das ist aber auch das einzige, was an ihn erinnert, alles andere gehört mir, mir allein. Jeder Zug spricht davon, daß Du mein bist – ich wußte es ja!“

Sie schloß ihn von neuem in die Arme und überschüttete ihn mit endlosen Zärtlichkeiten, die Hartmut ebenso leidenschaftlich erwiderte. Es war wie ein Rausch des Glückes, wie eins von den Märchen, die er sich so oft geträumt hatte, und er gab sich fraglos und rückhaltlos diesem Zauber hin.

Da machte sich Willy drüben am andern Ufer bemerklich. Er rief laut nach seinem Freunde und mahnte, daß es Zeit zur Heimkehr sei. Zalika fuhr empor.

„Wir müssen uns trennen! Niemand darf erfahren, daß ich Dich gesehen und gesprochen habe. Vor allem Dein Vater nicht! Wann kehrst Du zu ihm zurück?“

„In acht Tagen.“

„In acht Tagen erst?“ Die Worte klangen fast triumphirend, „und bis dahin sehe ich Dich täglich. Sei morgen um dieselbe Stunde hier am Weiher, Deinen Gefährten hältst Du unter irgend einem Vorwande zurück, damit wir ungestört sind. Du kommst doch, Hartmut?“

„Gewiß, Mutter, aber –“

Sie ließ ihm keine Zeit zu einem Einwurfe, sondern fuhr in demselben leidenschaftlichen Flüstertone fort:

„Vor allen Dingen Schweigen gegen jedermann, wer es auch sei. Vergiß das nicht! Leb’ wohl, mein Kind, mein geliebter einziger Sohn, auf Wiedersehen!“

Noch ein glühender Kuß auf die Stirn Hartmuts, dann tauchte sie wieder in das Gebüsch zurück, so lautlos wie sie gekommen war. Es war die höchste Zeit, gleich darauf erschien Willy, dessen Nahen sich nun allerdings nicht durch Lautlosigkeit auszeichnete, denn er stampfte nachdrücklichst den Rasen mit seinen schweren Tritten.

„Warum giebst Du denn keine Antwort?“ fragte er. „Ich rufe nun schon zum drittenmal, Du warst wohl eingeschlafen? Siehst auch ganz verträumt aus.“

Hartmut stand in der That noch wie betäubt da und blickte auf das Gebüsch, in dem seine Mutter verschwunden war. Jetzt richtete er sich auf und fuhr mit der Hand über die Stirn.

„Ja, ich habe geträumt,“ sagte er langsam. „Einen ganz seltsamen, wunderbaren Traum!“

„Du hättest lieber angeln sollen,“ meinte Willy. „Sieh, welch einen prächtigen Fang ich da drüben gemacht habe. Der Mensch darf nicht am hellen lichten Tage träumen, er muß etwas Ordentliches thun – sagt meine Mutter – und meine Mutter hat immer recht!“

(Fortsetzung folgt.)




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_008.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)