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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

nennen es die Aerzte und sie schütteln bedenklich den Kopf auch jetzt noch, wo ich wieder bei voller Besinnung bin, nur schwach, so schwach, daß ich kaum imstande bin, die Feder zu halten. Trotzdem habe ich mir Papier und Schreibzeug geben lassen. Nicht vergessen, nicht ganz vergessen will ich sein! Sie sollen, Sie müssen es wissen und es wieder erzählen zu Hause in unserer Heimath, wie ich gebüßt, wie ich das Vergangene gesühnt habe. Der Direktor hat mich besucht und noch mancher andere Beamte, auch etliche von den Passagieren, die in jenem Zug saßen, die ich gerettet habe. Denn es ist so. Der zu Thal fahrende Zug hat zwar im letzten Augenblick vor der Abfahrt, als schon das Zeichen gegeben war, zufällig noch einen kurzen Aufenthalt an der Station gehabt, aber doch bin ich es, der den Zusammenstoß verhindert hat, welcher ohne mein Eingreifen unvermeidlich gewesen wäre. Sie drückten mir alle, zum theil unter Thränen, die Hand, und der Direktor hat zu mir gesagt: „Sie sind ein braver Mann, Sie haben stets Ihre Pflicht gethan, in diesem Fall aber haben Sie noch mehr gethan, Sie haben Hunderten von Menschen das Leben gerettet.“ Hunderten! Habt ihr’s gehört, ihr seligen Geister drüben im Jenseits, hast Du’s gehört, Vater, Bruder, Mira, und Du, theure geliebte Mutter, daß ich für Dein Leben, für das eine, das ich zerstört, der Menschheit Hunderte zurückgegeben habe? O, ich bin stolz auf meine That, und doch fließen mir, wenn ich daran denke, unaufhaltsam die Thränen aus den Augen! O wie süß ist es, zu weinen, so zu weinen!

Der Krankenpfleger – ich habe einen Wärter, der mich aufs liebreichste pflegt – will nicht, daß ich so viel schreibe, weil es mich aufregt, wie er sagt. Des Abends kommen auch die Fieberphantasien wieder, aber es sind keine häßlichen Bilder mehr, wie im Anfang, da mir immer das Eisenbahnunglück vor der Seele schwebte, das ich mich zu verhindern bemühte. Im Traum sehe ich meine Eltern, meinen Bruder und Mira. Sie halten sich an den Händen und blicken so mild, so freundlich auf mich herab, als wollten sie sagen: „Komm zu uns! Wir erwarten Dich!“

Auch meine Mutter, die ich sonst immer nur mit dem Ausdruck des Todes in dem verglasten Auge sah, lächelt mir jetzt versöhnt und freundlich zu.

Ich komme bald, bald! Meine Kräfte werden schwächer, es geht mit mir zu Ende – ich kann nicht mehr.




Hiermit endet das Manuskript. Als ich es gelesen hatte und die Augen wieder emporschlug, dehnte sich vor mir das blaue Meer und über mir lachte der blaue Himmel Italiens. Aber all die sonnige Bläue vermochte mir Geist und Herz nicht zu erheitern wie sonst. Ein trüber Schleier schien sich mir über die herrliche Natur zu breiten, mein Geist weilte hoch im Norden, in der weiten, von Kiefern- und Tannenwäldern durchzogenen Ebene, die der Spiegel des Haffs begrenzt, und alle Empfindung meines Herzens gehörte dem Mann, der dort seinen Lebenslauf voll froher Hoffnung in einem Schloß begonnen und ihn fern von der Heimath im Krankenhaus, mit sich und seinem Schicksal versöhnt, beendet hatte, der lange Zeit für mich und die Welt ein Todter gewesen war, bis er gleich einer Erscheinung bei jenem einsamen Wärterhäuschen vor mir auftauchte, und der mich nun zur Vollstreckerin seines letzten Willens gemacht hat, welchen ich hiermit erfülle.




Ein deutsch-böhmischer Dichter.

Auf einer Fahrt von Dresden nach Prag war es, in schöner Sommerszeit. Der Eisenbahnzug führte durch blühende Auen, durch herrliche Fruchtgefilde, und entzückt hing mein Auge an den schönen Landschaftsbildern, die nur zu schnell vorüber zogen. Einer meiner Reisegefährten hatte sehr bald das rege Interesse erkannt, welches das schöne Böhmerland in mir erweckt hatte, und mit liebenswürdiger Zuvorkommenheit nannte er mir hier die Namen der Städte, dort der Flüsse und Berge. Längere Zeit schon waren wir so an lebhaftem Gespräch gefahren, als mein freundlicher Lehrmeister plötzlich ernst wurde und nach einem Friedhof hinüber deutete, an dem wir soeben vorbei führen. „Dort ruht meine Mutter,“ sagte er, und seine Stimme zitterte leise. Diese Bemerkung veranlaßte nun zu verschiedenen Fragen, und da ergab sich denn zu unser beider Ueberraschung, daß wir uns durch unsere Schriften seit lange kannten und bereits manchen Brief mit einander gewechselt hatten – ich saß Anton Ohorn gegenüber, dem feinsinnigen Dichter, dem gemüthvollen Erzähler, dem warmherzigen Patrioten! Damit erklärte sich mir auch die tiefe Erregung, von welcher der Dichter erfaßt worden war, als er – nach Jahren – das Grab seiner Mutter wieder einmal erblickt hatte. Denn die außergewöhnlichen Lebensschicksale Ohorns hatten ihren letzten Grund in einem Wunsche der Mutter; die schweren und langen Kämpfe, die der Dichter durchmachen mußte, erwuchsen vornehmlich aus der Liebe, von welcher der Sohn zu seiner Mutter erfüllt war.

Die Eltern Anton Ohorns lebten in sehr bescheidenen Verhältnissen; der Vater war lange Jahre Unteroffizier, zuletzt in Theresienstadt, wo auch der Dichter am 22. Juli 1846 geboren wurde, und dann Subalternbeamter in Böhmisch-Leipa, das als die eigentliche engere Heimath Anton Ohorns betrachtet werden muß, da er hier von 1851 ab seine ganze Jugendzeit verbrachte. Die Mittel für die Ausbildung des geweckten Knaben flossen mithin nur kärglich; trotzdem wurde es ermöglicht, daß er nicht nur die sogenannte Hauptschule, sondern auch das Gymnasium zu Leipa bis zu Ende besuchen konnte. Doch auf die ernste Gymnasialzeit folgten keine heiteren Studentenjahre – es war der heiße Wunsch der Mutter, der Sohn möchte sich dem geistlichen Stande widmen, und der Jüngling unterdrückte seine Sehnsucht nach einer freieren Betheiligung am geistigen Leben der Gegenwart, suchte die Träume, die ihm bereits leuchtende Bilder von Liebesglück und Dichterruhm vorgegaukelt hatten, zu verscheuchen und trat in das Prämonstratenserstift Tepl. Hier und in Prag widmete er sich eifrig theologischen Studien und empfing darauf 1870 auch die Priesterweihe. Der Abt, welcher die hervorragenden geistigen Fähigkeiten des jungen Klerikers bald erkannt hatte, wünschte aber nicht, daß Ohorn die gewöhnliche Priesterlaufbahn einschlage, sondern suchte ihn für das Lehrfach zu gewinnen; Ohorn promovirte daher im Februar 1872 in Prag zum Doktor der Philosophie und sollte nun demnächst die Stelle eines Professors an dem unter dem Orden stehenden Staatsgymnasium zu Pilsen erhalten, als er die Nachricht vom Hinscheiden seiner Mutter empfing. Aufs neue brach nun ein Sturm in seinem Innern los, und das Ende war, daß Ohorn jetzt, da die Rücksichten auf die Empfindungen der Mutter ihn nicht mehr banden, mit dem kühnen Wagemuthe der Jugend seine Fesseln zerriß, seine gesicherte und geachtete Stellung aufgab und im Sommer 1872 ohne Mittel, ohne Freund und ohne Aussicht für die Zukunft aufs Gerathewohl nach Deutschland ging. „So stand ich,“ sagt er in Erinnerung an jene schwere Zeit in dem Gedichte „Auf der Wartburg“:

„So stand ich unter Deutschlands grünen Bäumen,
Allein, verlassen, ohne Glück und Stern,
Allein mit meines heißen Herzens Träumen,
Von jedem Ziele noch so weit und fern:
Und bang und bänger fühlt’ ich’s in mir schwanken
Beim Sturm und Drang der eigenen Gedanken.“

Doch bald sollte sich sein Geschick wieder freundlicher gestalten; Eduard Tempeltey, der bekannte liebenswürdige Dichter, an den er sich gewandt hatte, nahm sich seiner freundlich an und vermittelte eine Audienz beim Herzog Ernst von Sachsen-Koburg-Gotha, die entscheidend für Ohorns ferneres Leben wurde. Der Herzog wendete ihm sein ganzes Wohlwollen zu und empfahl ihn dem herzoglichen Ministerium in Gotha. Ohorn ging daher dorthin und gewann sich in dem Ministerialrath Samwer, dem berühmten Kanzelredner Karl Schwarz, dem Oberschulrath Möbius, dem Hofprediger Schweitzer und im nahen Siebleben in Gustav Freytag rasch Freunde und Gönner.

Eine Stellung freilich wollte sich für ihn vorläufig noch nicht finden. Dagegen bot sich ihm oft Gelegenheit, im Umgang mit den geistvollen Männern sich eine neue abgeklärte Weltanschauung zu bilden, worauf er im Spätsommer 1872 in der Schloßkirche zu Gotha zum Protestantismus übertrat. Bald darauf wurde er als Lehrer an die höhere Töchterschule in Mühlhausen in Thüringen berufen, wo er sich nun auch einen eigenen Herd gründete, indem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 882. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_882.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)