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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Scholle, die sie bebaut hatten, zu schützen, zu fördern, zu vermehren, wenn und so lang es in meiner Kraft stand, ihren Stamm vor dem Erlöschen zu bewahren, den Namen, den ich geschändet und von mir geworfen hatte, zu neuen Ehren zu bringen, mein Gedächtniß zu reinigen von der Schmach, mit der ich es belastet, und es gereinigt glücklicheren Enkeln zu hinterlassen, wenn man mich neben den Eltern und dem Bruder zur letzten Ruhe einbettete? –

Es war dunkel geworden, unheimlich flackerte und prasselte das Herdfeuer, vor dem ich saß; sein Rauch kräuselte und ballte sich zu gespensterhaften, teuflischen Fratzen, die an den Wänden und an der Decke entlang huschten, tiefe Finsterniß lag in den Ecken des engen Raumes.

„Thu deine Pflicht! Wolle nur!“ raunte mir der Böse ins Ohr. „Die Papiere zu beschaffen, wird dir ein leichtes sein. Wenige leben noch, die dich gekannt haben, sie werden dir die Identität mit ihrem Eid bezeugen, und bist du erst Herr des Guts, so werden sie rasch vergessen, was früher geschehen ist, sie und alle, denen es aus zweiter Hand überliefert wurde. Was aber kannst du erst thun, wenn du Herr von Groß-Stegow bist, welche Fülle von guten, verdienstlichen Werken an den Armen, der Gemeinde, dem Staat, Wohlthaten, die dir im Himmel angeschrieben werden und dir Ehre bringen auf Erden und Liebe und Dankbarkeit bei den Menschen!“ –

Und noch immer saß ich vor dem flackernden Herdfeuer und starrte auf das Zeitungsblatt, das meine Hände krampfhaft umklammert hielten; ein fürchterlicher Kampf tobte in meiner Brust. – Da schlug plötzlich draußen das Glockenzeichen an, das die Abfahrt des Zugs von der nahen Station meldete. Ich sprang auf, zerknitterte das Blatt, das sich an meine Hände festzukleben schien, und schleuderte es in die Flammen, die hoch aufloderten. Dann eilte ich mit der Laterne, die ich rasch entzündete, hinaus. Ich hatte kaum noch Zeit, das Signal aufzuziehen, die Weiche zu stellen, meinen Posten einzunehmen, da brauste der Zug an mir vorüber.

Der kalte Angstschweiß stand mir auf der Stirn, zum erstenmal, seit ich im Dienst war, hätte ich fast meine Pflicht versäumt, und worüber –? Mir graute, wenn ich dessen gedachte, was mich so erfüllt hatte, daß ich die Stunde darüber vergaß, und dessen, was hätte geschehen können, wenn mich die Glocke nicht aus dem Taumel geweckt hätte, wie einst die Osterglocken den Faust. Thränen, die ich lange nicht geweint hatte, traten auch mir in die Augen, nicht das Glockensignal mit seinen paar eintönigen Noten, die ich stündlich vernahm, war es für mich, sondern ein Ton wie von siegenden Engelschören, die eine Seele dem Himmel gerettet.

Als ich in mein Häuschen zurückgekehrt war, fand ich nur noch Gluthen im Herd vor, obenauf lag die Asche jener Zeitung, und auf sie, auf die Asche des Majorats von Groß-Stegow, stellte ich nun den Topf, in dem ich mir erleichterten Herzens meine bescheidene Abendsuppe bereitete. Sie schmeckte mir wie ein Siegesmahl dem Kämpfer nach gewonnener Schlacht.

Dann holte ich vier Kerzen aus meiner Vorrathskammer, ging hinaus und steckte sie auf die vier Ecken des Kreuzpostaments, streute, was ich von Blumen in meinem Gärtchen zusammenbrachte, auf den Hügel und hier hielt ich meine Todtenfeier.

Ist’s nicht gleichgültig, wo das begraben liegt, was der Mensch, wenn er stirbt, auf der Erde zurückläßt? Und so lange er lebt und wirkt: ist’s nicht gleichgültig, wo der Mensch seine Pflicht thut und unter welchem Namen, wenn er sie nur thut? – – – – – – – – – – – – –

Eine größere Zeitpause trennte das im vorstehenden Kapitel Enthaltene von dem folgenden, das nur aus wenigen Blättern noch bestand, die den Schluß dieser Bekenntnisse bildeten.

Das Papier war ein anderes und auch die Schrift war verändert, sie war vielfach verzerrt und schwer zu entziffern, wie wenn jemand mit hastiger, oft stockender Feder seinen letzten Willen niederschreibt. An manchen Stellen brach das Geschriebene jäh ab, um dann ohne die rechte Vermittelung neu zu beginnen, und auch sonst machte sich im Zusammenhang manche Lücke bemerkbar, die ich hier ergänzt und ausgefüllt habe. Man sah, daß ein Kranker, ein Sterbender die Feder geführt mit der letzten Kraft seines Willens, dem die körperliche Kraft oft und endlich ganz versagt hatte, so daß das Geleitschreiben der Eisenbahndirektion, durch die ich diese Papiere empfing, ihren eigentlichen Schluß bildet.


9.

Sie haben es wohl aus den Zeitungen erfahren, welche Verheerungen die Elemente in diesem Frühjahr in unserer Gegend angerichtet haben. Plötzliche Schneefälle führten Ueberschwemmungen herbei, die alles, was Widerstand leistete, unterwühlten und mit fortrissen. Wir bei der Eisenbahn hatten schwer zu thun, um den Verkehr aufrecht zu erhalten. Die Steigung der Bahn auf der mir überwiesenen Strecke ist eine bedeutende und die Züge, die von unten herkamen, brauchten nicht selten eine Schiebmaschine, um sich durchzuarbeiten. Eine solche wurde ihnen oft auf der letzten Station beigegeben, oft auch nachträglich reklamirt. So kam einmal, als der Zug aufwärts meinen Posten schon passirt, wohl auch nach meinem Ermessen die nächste Station schon ohne Hilfe erreicht hatte, eine solche Maschine nachgedampft. „Befohlen!“ schrie mir der Führer im langsamen Vorbeifahren zu. Da muß wohl, dachte ich mir, der Zug, als er an mir vorbei war, also zwischen mir und der nächsten Station, stecken geblieben sein, und ich mußte annehmen, daß das dort bekannt und von dorther die Hilfe bestellt sei. Ich wußte aber auch, daß der nächste thalwärts fahrende Zug dort um diese Zeit fällig sei, und indem ich mir darüber meine Gedanken machte, ertönte das Alarmzeichen, das mir befahl, jedes Fahrzeug, das sich auf der Strecke befand, anzuhalten und wieder einen Augenblick später das Glockensignal, das die Abfahrt des fälligen Zuges meldete.

„Da muß ein Irrthum obwalten, ein Mißverständniß, das von den schlimmsten Folgen sein kann!“ durchzuckte es mich blitzschnell. „Die Hilfsmaschine ist überflüssig, sie rennt vielleicht in den Zug, der von oben kommt, und“ – – Ich dachte nicht weiter, sondern rannte der Maschine nach, die eben an mir vorbeigefahren war. Ein furchtbares Schneegestöber herrschte, ein eisiger Wind wehte von den Bergen, ich stürzte, so schnell mich die Füße trugen, vorwärts auf dem Geleise. „Du kommst zu spät,“ sagte mir die Vernunft, „und wenn die Maschine bei dem Wetter und der Steigung auch nur langsam vorrückt, du wirst sie nicht erreichen, nicht mehr rechtzeitig erreichen.“ Aber die Pflicht trieb mich trotzdem weiter; die Bahn macht hier überdies verschiedene starke Biegungen, so daß die Begegnenden sich, auch abgesehen vom Wetter, nicht früher sehen können, als bis sie aneinander sind und das Unglück nicht mehr zu vermeiden ist. Aber das war’s eben, was mich hoffen ließ, daß es mir doch noch gelingen könnte, die Maschine zu erreichen, ehe es geschehen war, denn ich kannte jeden Pfad an den Berghängen und konnte so die Bogen abschneiden. Freilich waren es böse und heute bei dem Schneewehen doppelt beschwerliche und gefährliche Pfade, aber durch den heulenden Sturm glaubte ich schon das Wehklagen der Hunderte zu vernehmen, Männer, Frauen und Kinder, die mit zerschmetterten Gliedern entsetzlich verstümmelt sich am Boden krümmten oder zwischen den Trümmern der Wagen festgekeilt waren. Das spornte mich zu fast übermenschlicher Hast, ich glitt aus, stürzte, raffte mich wieder auf, kletterte und rannte weiter mit fliegendem Athem und keuchender Brust. Da, da löste sich aus dem Nebel und dem sinnverwirrenden Gewirbel der Schneeflocken etwas Schwarzes, eine schwarze Masse, ich hörte das langsame, stoßweise Stöhnen des Schlots: das war die Maschine. Wie ein Wahnsinniger brüllte ich: „Halt! Halt! Zurück!“ daß mir der Schrei fast die Lungen sprengte, aber im nächsten Augenblick war ich vorne bei der Maschine und sprang auf. „Zurück!“ schrie ich dem erschrockenen Führer zu, „zurück, der Zug kommt, alles ist verloren!“ Ich griff selbst nach dem Hebel, jener kam mir zuvor, einen Augenblick, da stand die Maschine keuchend, in allen Fugen knarrend, dann fuhren wir in rasender Schnelligkeit zurück. An meinem Wärterhaus dämpfte der Führer, dem ich inzwischen eilends das Nähere mitgetheilt hatte, den Lauf seines Fahrzeugs soweit, daß ich abspringen konnte. Ich eilte zur Weiche und dann auf meinen Posten, wo ich fest und regungslos stand. Da, nur einen Augenblick später, wenige Minuten vielleicht, vernahm ich das Schnauben und Stampfen des nahenden Zugs. Er brauste an mir vorüber und ich zählte noch die Wagen, die mit Passagieren überfüllt waren, sah durch die überlaufenen Fensterscheiben die dunklen Gestalten der Menschen, die keine Ahnung hatten von der furchtbaren Gefahr, in der sie geschwebt hatten, und dann vergingen mir die Sinne, ich brach zusammen.

Der Beamte, der mich so fand, ließ mich ablösen und ins Krankenhaus schaffen. Hier liege ich nun und schreibe diese Zeilen, nachdem ich lange in Fieberphantasieen gelegen habe; Brustfieber

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 879. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_879.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)