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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Mann – pfui!“ – einer der Eiszapfen fiel aus ihren unsicher gewordenen Fingern und zersplitterte auf der Diele – „versündige Dich nicht! Du kannst immer soviel väterliches Gefühl haben, daß Du einiges Mitleid mit Deiner einzigen Tochter empfindest! Danke Gott, daß Dich niemand im Leben so gequält hat, wie wir sie gequält haben! Jetzt geh mir ab!“

„Sei gut, Lotting –“ er hatte die sich Sträubende in den Arm genommen – „Du weißt ja, daß ich noch keiner von den Schlimmsten bin. Nun gieb mir ’mal ’nen Kuß auf Deine alten Tage!“

* * *

Billa war in ihrem niedlichen Mädchenstübchen angelangt. Da war alles so kattunbezogen licht und zart, so ganz Tand und Toilette, selbst die Goldschnittbibliothek in dem aufgehenkten Wandbrett.

Und doch – die arme Billa war sehr ernst. Nicht verzweifelt, nicht leidenschaftlich, nicht zu Thränen gestimmt: sie wußte nur, was sie thun wollte, und das andere lag hinter ihr.

„Halb vier wird’s dunkel,“ sagte sie zwischen den gepreßten Lippen. „Jetzt ist’s“ – sie zog ihre zierliche Golduhr – „halb elf. Das reicht. Um sechs geht der Zug – ich werde von der Station an Magda telegraphiren, daß sie mich abholt. Mit Erichs Zug wird sich der meine hinter Stresow kreuzen – ich will ihm eine Kußhand hinüber werfen. Ach Gott . . . “

Sie hielt wieder die Hände vor das Gesicht; nur Sekunden, dann war die weiche Empfindung vorüber. Sie entnahm mit energischer Bewegung dem Schranke Pelzjacke, den Bibermuff und das Barett – in einer Minute war sie Ausgehen fertig.

Sie stieg so leise wie möglich die Treppe wieder hinab – unbemerkt verließ sie das Haus. Sie vermied es, nach dem Fenster zu sehen, wo der Vater zu sitzen pflegte – nur rasch hinaus, in den bergenden Nebel. So, da war sie vorüber, auf dem gefegten und doch unterm Schritt knirschenden Trottoir. Sie sah nur soviel im Nebel, daß sie die Richtung innehalten konnte, nicht viel mehr. Ein paar Menschen, die ihr in der Stadt begegneten, kamen und entschwanden wie Schemen. Der Tannen- und Kuchengeruch aus den Häusern schien vor jedem festgelagert zu sein, so hielt ihn der Nebel. Sie hatte nicht sehr weit zu gehen – eine Seitengasse, und wieder eine Seitengasse. Dann mußte sie spähend von Haus zu Haus schreiten, um das niedrige graue Ding mit dem großen Dach und den rothbraunen Läden zu finden, das den alten Pötter beherbergte.

Pötter war Milchfuhrmann – er hatte lange Jahre die Milch aus Tempelwiese abgeholt; aber er besaß auch einen alten Kaleschwagen und einen Schlitten und fuhr jedermann nach der Bahn, der zahlte. Eine alte ehrliche Haut, vertraut mit den Tempelwieser Kindern – sehr phlegmatisch und langsam, aber gefällig und verschwiegen.

Nun hatte sie die Thür aufgeklinkt und stand in der Küche vor Pötters Ehehälfte. „He, du lieber Gott, Fräulein, das ist ja noch ’ne Ehre zu Heiligabend – suchen Sie meinen Mann? Der ist drin in der Stube; aber er raucht seine kurze Pfeife schon den ganzen Morgen, und das wird drin wohl noch ein ärgerer Dampf sein als draußen . . . Jochen, komm mal in die Küche, Bussens Fräulein ist hier!“

Das junge Mädchen stand bebend da und sagte nichts. Es hing alles davon ab, daß der alte Pötter sie heute fuhr. Langsam – langsam kamen die schweren Tritte zur Thür . . .

„Je ja, Fräulein, was thun Sie denn bei uns heute? Ist der Herr Bruder noch nicht da, daß ich ihn von der Bahn abholen soll?“

„Wohl, Alt-Pötting,“ sagte sie hastig, „Ihr sollt nach der Bahn fahren, aber – aber nicht ihn holen; Ihr sollt mich nachmittags bei Dunkelwerden hinfahren und dann wieder umkehren; es soll eine Ueberraschung geben,“ schloß sie, und es flog roth über ihr feines blasses Gesicht.

Dann geht sie – leise – die Tasche in der Linken.

„’Ne Ueberraschung; ja, das will ich wohl thun, weil Sie’s sind, denn das ist heute kein Vergnügen, zu fahren. Dann muß ich aber den Schlitten nehmen, denn das ist ein schwer Fahren mit der alten Kutsche bei dem Schnee; ich habe nur ein Pferd davor. Wann soll denn das losgehen?“

„Um vier Uhr, denke ich.“

„Schön; soll ich denn draußen vor Ihrem Hause halten?“

„Nein, nein – ich warte am Ostthor. Welche Zeit ist es auf Eurer Uhr?“

„Da hängt sie –“ die Frau deutete auf die Schwarzwälder an der Küchenwand. Billa verglich die Zeit auf ihrer Uhr.

„Meine geht fünf Minuten vor. Fahrt punkt vier von hier ab, Pötting; wollt Ihr?“

„Ich werde schon dafür sorgen, Fräulein,“ nickte Frau Pötter. „Er ist all was langsam.“

„Dann adjüs! Ich verlasse mich drauf. Haltet vor Schneiders, damit wir uns im Nebel nicht verfehlen!“

Und draußen war sie, und die Frau Pötter sagte hinterher: „Nein, was das lütt Ding blaß aussah! Sie wird doch gesund sein? Ich weiß bloß nicht, wie sie die Decken all in den Schlitten schaffen will, wenn das ’ne Heimlichkeit sein soll. So kann sie doch nicht fahren! Ich will alle Tücher in den Schlitten thun und Deinen alten Pelz auch, Vatting.“

Billa ging nach Hause, das Herz wenigstens in diesem Punkt erleichtert. Der Vater saß richtig wieder am Fenster, aber er sah nicht heraus. Doch im Hausflur stieß sie auf die Mutter, und der fragende Blick derselben erregte ihr ein entsetzliches Herzklopfen.

„Ich habe noch Besorgungen, Mutter; wundere Dich nicht, wenn ich noch ein paar Gänge heute mache.“

Es war ihr gelungen, das scheinbar ruhig zu sagen. Dann stieg sie langsam – das Herz that ihr völlig weh, so pochte es – die Stufen hinauf. In dem warmen Stübchen oben preßte sie die Hand auf die Brust. O – – nun gab es sich schon. Sie legte ab, suchte auf dem Boden des Schrankes – da lag die Tasche, in der sie allenfalls das Nöthigste unterbringen konnte für die Reise. Koffer und Kisten mitnehmen, das ging ja jetzt nicht. Sie mußte sich in der Residenz einiges neu kaufen. Gott sei Dank, daß sie dort eine Pensionsfreundin besaß, die weder Vater noch Mutter, sondern nur ein Anstandsfräulein bei sich hatte! Und Gott sei Dank, daß sie eine sehr, sehr volle Sparbüchse ihr eigen nannte! Im übrigen kehrte Erich in die Residenz zurück, und mit ihm ließ sich im Nothfalle über weiteres reden.

„Zurück in das Elternhaus auf keinen Fall! Wenigstens nicht so . . . !“

Billa schloß die Tasche auf und packte – überlegte, wählte und packte wieder. Nur nichts Unnöthiges! Nur nichts, was man sich billig neu kaufen kann! Da ist die Sparkasse – gleich den ganzen Bettel eingepackt. Das Reisegeld ins Portemonnaie . . .

Sie öffnete das zierliche rothe Plüschtäschchen und nickte befriedigt.

Die Mittagsstunde war nahe, man aß bei Busses pünktlich um zwölf Uhr, eine Viertelstunde fehlte noch. Billa warf sich in den Schaukelstuhl und träumte – unruhig bewegte sie die Schaukel. Sie sprang auf, legte sich wieder in den Stuhl und träumte weiter. Ihr Mädchenkopf versuchte noch einmal auszudenken, wie ihre Zukunft sich gestalten sollte.

„Adolf muß sorgen. Er muß eine Stelle finden, auf der es wenigstens nicht unmöglich ist, auszukommen. Er ist ein so großer, kluger, tüchtiger Mensch. Weiter ist eigentlich nichts nöthig. Vielleicht geben die Eltern auch nach. Aber wenn

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 873. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_873.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)