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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

kommt aus dem Zuchthaus,“ mochten sie denken, und sie hatten ja recht, wenn sie mich auch gewiß eher für einen entsprungenen, als für einen durch des Königs Gnade befreiten Sträfling hielten. Ich war’s zufrieden, wenn sie mich nur nicht erkannten, und jetzt, wo ich mich schon auf väterlichem Grund und Boden befand, freute ich mich schier meines verlotterten, verkommenen Aussehens. So, sagte ich mir, mag der verlorene Sohn der Bibel einst an den väterlichen Herd zurückgekehrt sein. Aber wird man dich auch so empfangen wie ihn, der doch nur ein leichtsinniger Verschwender war? Wird dein Vater auch die Arme nach dir ausbreiten, wie der seinige nach ihm? Wird dein Anblick ihm nicht Entsetzen einflößen, wird er, von dem du Vergebung erhoffst, dich nicht mit dem letzten Athemzug noch verfluchen? – Diese Angst wurde stärker, je näher ich dem Ziel meiner Schritte kam, sie hemmte meinen Gang, während die Sehnsucht mich vorwärts trieb.

Ja, da lag sie wieder vor mir, die weite Ebene mit ihrer grünen Wand von Kiefern- und Tannenwäldern und in der Ferne der schimmernde Spiegel des Haffs, da grüßte mich auch das Schloß meiner Väter, der Stammsitz derer von Klaritz, den sie sich in treuer ehrlicher Arbeit von Jahrhunderten gegründet, da lag sie vor mir, die Heimath.

Und ich, der jüngste, mißrathene Sproß jenes tugendreichen Geschlechts, mit wie anderen Gefühlen betrat ich sie jetzt als damals, da ich nach der ersten längeren Entfernung vom Vaterhaus dorthin zurückkehrte, von den alten Freunden und Bekannten traulich begrüßt, auf der Schwelle mit offenen Armen empfangen von den Eltern, dem Bruder und – Mira! Ja, auch sie hatte ich hier zum erstenmal gesehen, sie, deren Anblick so heiße Flammen in meiner Brust entfacht hatte, daß alle anderen Empfindungen darin zu Asche versengt wurden, Mira mein Glück – mein Verderben! Und wie anders war alles heute! Die alten Diener kannten mich nicht mehr, sie durften mich nicht erkennen und ich mußte mich vor ihnen verbergen, damit sie mich nicht griffen und fortjagten wie einen Strolch, der in böser Absicht den Hof umkreist, – die Mutter todt durch mich, der Vater, wenn er noch lebte, ein armer, gebrochener Greis, auch der Bruder um sein Glück betrogen und Mira im Kloster, der Welt entsagend, eine Gottesbraut!

Wieder war’s Frühlingszeit wie damals. Wohl erkannte ich auch jetzt wieder jeden Baum, jeden Strauch, aber sie waren verwildert, wie das ganze Gut und auch das Schloß den Eindruck des Verfalls auf mich machte, und nicht mehr die Stimmen der Kindheit waren es, die mich mit ihrem Zauber umfingen, sondern die mahnenden Stimmen des Gewissens, die mir zuriefen: „Das alles hast Du gethan!“

Von allen Seiten umschlich ich das Haus und den Garten, nur an eine Stelle wagte ich mich nicht heran, die Stelle dort beim Fluß, obwohl der Schießstand verschwunden und alles der Erde gleich gemacht war. Als ich einmal in ihre Nähe kam, trieb mich ein Schauder zurück. Mir war’s, als schwebten rächende Geister über der Stätte und lauerten auf den Mörder.

Bis in den Hof hinein schlich ich mich und belauschte dort die Gespräche der Diener und Stallburschen. Sie schalten auf den neuen Verwalter und klagten, daß der junge Herr nur selten noch das Zimmer verlasse, und wie’s der alte, den man an warmen Tagen im Mittagssonnenschein noch manchmal in den Garten hinausführe, auch nicht mehr lange treiben könne, und wie schade es sei um das schöne Gut und die schönen Gespanne.

Er lebte noch! Da bat ich den Himmel um Sonnenschein, ich – den Himmel, und er erhörte mein Gebet, vielmehr er that’s dem alten Vater zu lieb, daß ich ihn sehen konnte am andern Mittag, hinter der Hecke versteckt, nur heimlich, von ferne, aber doch ganz deutlich.

O, wie so krank und hinfällig sah er aus mit dem silberweißen Haar, dem gebeugten Haupt, den eingefallenen, gramdurchfurchten Zügen, daraus die Augen, die alten treuen Augen nicht mehr leuchtend wie einst, sondern trüb und traurig und in ihrer Trauer doch so mild hervorblickten, daß ich neue Hoffnung schöpfte. Nein, diese sanften Augen konnten nicht in Zorn und Haß aufblitzen, nicht in Schreck und Abscheu erstarren; diese welken, zitternden Hände konnten nur segnen, nicht fluchen!

Ein Diener schob den Rollwagen, in welchem der Greis, sorgsam mit Decken umhüllt, saß, ein anderer trug die Krücken und einen Korb. Krücken! – So weit war es mit ihm!

Sie führten ihn weiter und ich schlich mich die Hecke entlang ihnen nach, bis sie stillstanden an einer Stelle des Gartens, der einzigen, die noch mit besonderer Sorgfalt gepflegt war.

Hier standen zwischen Blumenbeeten dunkle Cypressen und eine Bank, und mehr vermochte ich von meinem Standpunkt aus zunächst nicht zu sehen.

Die beiden Diener halfen dem alten kranken Herrn aus dem Wagen heraus, sie reichten ihm die Krücken, stützten ihn mit ihren Armen und trugen ihn mehr, als sie ihn führten, nach jener Bank. Dort ließen sie ihn nieder, schoben ihm weiche Polster unter den Rücken und einen Schemel unter die Füße. Nachdem der eine sodann den Korb, der mit Blumen gefüllt war, geöffnet und ihn im Bereich seiner Hände niedergestellt hatte, zogen sie sich beide ehrerbietig zurück.

Da saß nun mein Vater allein, ich konnte mich auf den Zehen näher heranwagen, und nun sah ich, wie er Blumen und einen Kranz mit zitternder Hand aus dem Korb nahm und sie auf einen kleinen Hügel niederlegte, an dessen Fuß die Bank stand und den mir die Cypressen bisher verborgen hatten. Er war mit Felssteinen umfaßt, von Epheu umwuchert; ein Rosenstock stand darauf und ein marmornes Kreuz. Mein Vater saß wieder ganz still, er hatte die Hände gefaltet und blickte mit verklärtem, wehmüthig sehnsüchtigem Blick auf den Hügel und das Kreuz. Die Sonnenstrahlen, die durch das Gezweig brachen, warfen gaukelnde Lichter auf den Hügel und umflossen das greise Haupt wie mit einem Glorienschein.

O, nun begriff ich’s, der Hügel mit dem Kreuz darauf, er war das Grab meiner Mutter, und heute, heute war ihr Geburtstag. Wie drängte es mich, mich darüberzustürzen, die heilige Erde mit Thränen zu benetzen, meine heiße Stirn an dem Marmor zu kühlen, mich zu ihr zu betten zum letzten, alles sühnenden Schlaf!

Wie, ich, der Mörder, zu seinem Opfer? Durfte ich das? Durfte ich die fromme Andacht des alten Mannes durch meinen Anblick entweihen? War nicht meine heimliche Gegenwart schon eine Entweihung des Orts, ein Hohn auf des Vaters Schmerz? –

Und doch sah er so mild aus, der Greis, wie ein Heiliger, und die Heiligen verzeihen!

Eine Thräne schimmerte in seinem Auge, und auch mir drängten sich Thränen heiß herauf aus der beklemmten Brust. O, daß ich sie weinen dürfte zu seinen Füßen, daß ich ihm Luft machen dürfte, dem verzweifelten Schrei, der mir schluchzend fast die Kehle sprengte: „Vater!“

Hatte ich’s gerufen? Ich weiß es nicht. Ganz plötzlich legte sich eine Wolke vor die Sonne, die gaukelnden Lichter erloschen, tiefer Schatten senkte sich auf den Hügel, auf meinen Vater, auf das ganze weite Gefild, und aus der Wolke klang es wie ferner Donner auf mich herab: „Hebe Dich fort, Verfluchter!“

Da erfaßte mich haarsträubendes Entsetzen, und wie Orestes, der Muttermörder, über dem die Furien ihre Geißel schwangen, stürzte ich fort, an den herbeieilenden Dienern vorüber, sie fast über den Haufen rennend, über die Hecke, fort, nur fort!

„Erwin!“ – so glaubte ich hinter mir eine schwache zitternde Stimme zu vernehmen.


7.

Fort, nur fort, so weit die Welt ist, fort! Aber für die Meerfahrt reichte meine Barschaft nicht aus, und der nächste Hafen, den ich hätte erreichen können und wo man mich vielleicht an Bord genommen hätte, wenn ich mit meiner Hände Arbeit die Kosten der Fahrt bestritt, lag zu nah bei meiner Heimath. Viele kannten mich dort, und wenn auch nicht, so mußte ich meine Papiere vorweisen und der Name Klaritz war an der nordischen Küste weithin bekannt, auch meine That war dort noch im frischen Gedächtniß der Menschen. Südwärts, in entgegengesetzter Richtung mußte ich ziehen, wo andere, fremde Menschen wohnten, freiere Sitten und Gebräuche herrschten, wo man’s mit den Papieren, dem Namen nicht so genau nahm. So bildete ich mir ein, und unter fremdem Namen schlug ich mich, wie ein Verbrecher, durch die Lande, hier und dort durch gelegentliche Arbeit mein Brot verdienend, nie muthig genug, dauernd in einem Dienst zu bleiben, zuweilen auch von den Wohlthaten mitleidiger Menschen mich nährend, bis tief in die Schweiz hinein.

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