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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Und das alte Heilmittel hatte sich gut bewährt. Das fiebernde Blut in seinen Schläfen hatte sich allgemach beruhigt, und andere Bilder waren in seiner Phantasie lebendig geworden als dasjenige, welches er aus dem Konzertsaal mit fortgenommen hatte. Nicht das schöne, verführerische Weib hatte er vor sich gesehen, sondern jenes unbarmherzige, mitleidlose Geschöpf, das in einer stürmischen Winternacht, in duftendes Pelzwerk gehüllt, an seiner Seite in dem bequemen Wagen gesessen und auf seine innigen, flehentlichen Bitten, einer Unglücklichen beizustehen, mit grausamen Worten des Spottes und Hohnes geantwortet hatte. Und vor dieser unauslöschlichen Erinnerung war der neue Rausch schnell wieder verflogen; die Last, welche sich ihm centnerschwer auf Kopf und Herz gelegt hatte, war wie von Geisterhänden abgewälzt, und jene ruhige Seelenheiterkeit, die ihn während der ganzen Dauer seines Brautstandes so glücklich gemacht hatte, war ihm allmählich zurückgekehrt. Ja, er durfte nicht mehr zweifeln an sich selbst. Astrid allein war es, der seine Liebe gehörte, und sie sollte nichts mehr zu fürchten haben von dieser Nebenbuhlerin, die um so viel glänzender war als sie und doch so klein und erbärmlich neben ihrer unschuldsvollen Reinheit und Güte!

Da war Astrids Brief gekommen, und Gerhard hatte erkannt, daß das Schicksal seine Reue und das Wiedererwachen seines besseren Selbst nicht erst abgewartet hatte, um seine Strafe über ihn zu verhängen. Und er empfand die Schwere dieser Strafe in ihrer ganzen vernichtenden Wucht! Jetzt, wo er nicht mehr zweifeln durfte, daß er es für immer verloren habe, erkannte er erst die Größe und den Werth des Glückes, das ihm ohne sein Zuthun und sein Verdienst wie ein Geschenk des Himmels in den Schoß gefallen war, – jetzt erst erschrak er vor der nämlichen Aussicht, an die er vorhin fast mit einer Regung geheimen Wunsches gedacht hatte, vor der Aussicht, fortan ein Leben zu führen, welchem Astrids süße Stimme und ihr sonniges Lachen fehlen würden.

Sein erster Gedanke war gewesen, unverzüglich zu ihr zu eilen; aber er hatte ihn wieder aufgegeben, als er ihren Brief zum zweitenmal gelesen. Nein, hier gab es keine andere Möglichkeit mehr als schweigende Unterwerfung unter ihren Willen. Von den Anklagen, welche hier, wenn auch in der großmüthigsten und schonendsten Form, gegen ihn erhoben wurden, konnte er ja kaum eine einzige entkräften und widerlegen. Nur mit einer Lüge hätte er den Versuch machen können, sich sein Glück zurück zu gewinnen, und er fühlte wohl, daß ihre klaren Kinderaugen diese neue Lüge sofort durchschauen würden, wenn er wirklich den Muth besäße, sie auszusprechen.

Aber trotz dieser traurigen Erkenntniß war etwas in seinem Herzen, das sich wild gegen die Vorstellung auflehnte, daß er schon in wenigen Tagen und Stunden nicht nur durch den Abgrund, welchen seine Schuld zwischen ihnen aufgerissen, sondern auch durch Länder und Meere von ihr getrennt sein würde. Ließ er sie in die weite, unbestimmte Ferne ziehen, so war sie für ihn gestorben, und irgend ein schwacher Rest von Hoffnung, der doch noch in einem Winkel seiner Seele leben mußte, wollte ihm immer wieder zurufen: das wenigstens darf nicht geschehen!

Und er hatte ja ein Mittel, es zu verhindern – ein unfehlbares Mittel, wie er wohl wußte. Wenn Astrid ihrem Großvater auch alles vergeben hatte, was er ihrer unglücklichen Mutter angethan, so konnte sie ihm doch sicherlich die tödliche Kränkung nicht vergeben, die er ihrem armen heißgeliebten Vater noch auf seinem Sterbebette zugefügt hatte. Bis zu dieser Stunde hatte Gerhard ihr nie davon gesprochen; aber er besaß ja den Brief des Herrn Christoph Ulwe, welchen ihm der todkranke Musiklehrer übergeben hatte, und er zweifelte nicht, daß eine Uebersendung dieses Briefes an Astrid mit wenigen erklärenden Worten genügen würde, sie für alle Zukunft von einer Vereinigung mit ihrem Großvater abzuhalten. Er schloß ein Fach seines Schreibtisches auf und entnahm ihm den kurzen, nach Form und Inhalt so verletzend geschäftsmäßigen Brief. Da waren noch die beiden verwischten Stellen, auf welche die heißen Thränen des armen Bernhardi gefallen sein mochten, und wenn es irgend eine Sprache gab, die laut und eindringlich zu Astrids Herzen reden konnte, so war es diejenige dieser beiden kleinen Flecken. Schon war Gerhard im Begriff, seinen Vorsatz auszuführen. Da sank der Arm, der sich bereits nach der Feder ausgestreckt hatte, plötzlich schlaff herab und das verhängnißvolle Blatt entglitt seiner Hand.

War das, was er da thun wollte, nicht ein neuer Verrath an Astrid und an ihrem Glück? Hatte ihm Bernhardi nicht gesagt, daß Christoph Ulwe ein sehr reicher Handelsherr sei? Und war es denn nicht der glühendste Wunsch des Musiklehrers gewesen, sein Kind unter dem Schutze und unter der Fürsorge dieses Mannes zu wissen? Gerhard schlug die Hände vor seine heiße Stirn. Hatten seine eigenen selbstsüchtigen Hoffnungen nicht ungleich größeren Antheil an seiner Absicht gehabt, als der Gedanke an Astrids Wohl? Und würden diejenigen nicht recht haben, welche seine Handlungsweise als eine Erbärmlichkeit bezeichneten?

Im nächsten Augenblick flammte Christoph Ulwes Brief im knisternden Ofenfeuer zu Asche. Gerhard aber hüllte sich in seinen Ueberrock und eilte hinaus ins Freie, planlos und ziellos durch die Straßen und dann durch die stillen, menschenverlassenen Wege des Thiergartens, von keinem anderen Wunsche erfüllt als von dem Verlangen, seine brennende Stirn in dem schneidend kalten Abendwinde zu kühlen.


12.

Ein Geräusch, ähnlich dem fernen Branden des aufgeregten Meeres, durchwogte dem weiten Konzertsaal, der jetzt nicht in dämmerndem Halbdunkel dalag wie bei den Proben, sondern in der glanzvollen, fast blendenden Helligkeit, welche von der Decke und von der Galeriebrüstung her die elektrischen Glühlichter aus ihren geschlossenen Gläsern über ihn ausgossen. Kaum jemals hatte man bei einer öffentlichen Veranstaltung ein gewählteres und vornehmeres Publikum gesehen, als es sich heute zur ersten Aufführung von Steinaus Oratorium eingefunden hatte, und jene angenehm erwartungsvolle Erregung, die sich vor künstlerischen Ereignissen von besonderer Bedeutung stets einzustellen pflegt, äußerte sich sowohl in den Mienen der Erschienenen wie in ihren Gesprächen.

Auf dem Podium und im Orchesterraum hatten sich mit Ausnahme der Solisten und des Dirigenten selbst die Mitwirkenden bereits vollzählig eingefunden, denn schon waren einige Minuten über die für den Beginn des Konzerts festgesetzte Zeit verstrichen. Die Damen des Chores waren durchweg in eleganten weißen Balltoiletten, und die Edelsteine wetteiferten in ihrem funkelnden Glanze mit den schönen Augen, welche in mehr oder weniger harmloser Koketterie manchen sprühenden Blitz in die Zuhörerschaft hinabsandten. Die Musiker waren mit dem Stimmen ihrer Instrumente längst zu Ende, und mehr als einmal wandten sich ihre Blicke erwartungsvoll nach der kleinen Thür, durch welche der Held des Abends, der Komponist Steinau, eintreten mußte.

Da endlich – ein Gemurmel der Befriedigung und der Bewunderung ging durch den gewaltigen Raum – die kleine Schar der Solisten hatte das Podium betreten! Es waren einige der ersten Mitglieder des königlichen Opernhauses und ein sehr berühmter Konzertsänger. Als die letzte von allen erschien Rita Gardini. Sie trug eine gestickte Sammetrobe, die ein kleines, und einen Brillantschmuck, der ein großes Vermögen werth war, und das halblaute „Ah!“ des Staunens und des stillen Neides, das den mit gesteigerter Aufmerksamkeit spähenden Damen entschlüpfte, bedeutete an und für sich schon einen Triumph für die sieggewohnte Künstlerin. Und wie hartnäckig blieben die Operngläser der Herren auf ihr schönes Gesicht, auf ihre königliche Gestalt geheftet! Wahrhaftig, wem die Liebe dieser Frau zutheil wurde, der war ein Auserwählter unter den Sterblichen, und der hatte wohl Ursache, den Göttern ein freiwilliges Opfer zu bringen, um ihren Neid zu versöhnen.

Und jetzt tauchte auch Gerhard Steinaus schlanke Gestalt vor dem Dirigentenpulte auf. Der Eindruck, welchen Ritas Eintritt hervorgebracht hatte, war so groß gewesen, daß man sein Erscheinen kaum beachtet hatte. Er aber hatte, ehe er sein Gesicht dem Podium und den Sängern zuwandte, einen einzigen raschen Blick in den Zuschauerraum geschickt. Nach jener Seite hin war dieser Blick geflogen, wo die für Astrid und Frau Haidborn bestimmten Plätze lagen. Er hatte gefunden, was er erwartet hatte: die Plätze waren leer! Ein schmerzliches Zucken ging über sein blasses Antlitz und seine Lippen bebten leise. Aber während er die beiden Stufen zu seinem erhöhten Sitz hinanstieg, sagte er halblaut vor sich hin: „Gleichviel!“ Und dasselbe trotzige Wort wiederholte er noch einmal, als er mit einer beinahe krampfhaften Bewegung den goldenen Knopf seines Taktstockes umklammerte.

Das Orchestervorspiel begann. Es wurde tadellos ausgeführt und brachte unverkennbar einen durchaus günstigen Eindruck hervor.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 851. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_851.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)