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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

feigem – Entsagen? Nein, das stand fest in mir, entsagen konnte und wollte ich nicht mehr, es wäre ein Verbrechen an Mira, an mir selbst, ja auch an den Eltern und an Hubert, wie ich mir einzureden suchte, gewesen. Sie gehörte mir durch das Gesetz der Natur, der Selbstbestimmung, des freien Willens, das höher steht als alles Menschenrecht, hoch über all den künstlichen Satzungen, die eine der Natur und ihren Zwecken entfremdete Gesellschaft zur Beschönigung ihres Eigennutzes, ihres Dünkels, ihres hohlen Formenkults aufgestellt hat, hoch über allen Familienrücksichten. So phantasierte ich in meinen muthigen Stunden. Aber ist denn die Kindesliebe, die gehorsame Verehrung derer, die uns das Leben geschenkt haben, und die opfermuthige, dankbare Rücksichtnahme auf ihre Wünsche, auf ihr Glück nicht auch ein Naturgesetz? – So fragte ich mich in den zaghaften. An Huberts, an des Bruders Glück dachte ich nicht, er war des edlen Schatzes nicht werth, den ihm ein Zufall in den Schoß geworfen hatte, ihm wollte ich ihn nicht lassen und wenn ich auf Tod und Leben mit ihm darum kämpfen mußte.

Aber auch dem Vater, von dem ich’s wußte und fühlte, daß ich seine ganze Liebe besaß, auch ihm wagte ich’s nicht, mich anzuvertrauen, nicht in der Stunde, da er mit mir über meine Zukunft sprach, mein Herz vor ihm auszuschütten. Gerade das unbedingte, nicht von dem leisesten Verdacht beirrte Vertrauen, das er auf mich setzte und das ich durch mein Geständniß zerstören mußte, hielt mich zurück von dem Schritt, zu dem mein Herz, mein Gewissen mich drängten.

O, hätt’ ich’s gethan, hätt’ ich ihm alles gesagt, so wie ich’s heute in verspäteter Reue auf dieses Papier schreibe, es wäre anders geworden!

Worin es mir Hubert jetzt mehr denn früher zuvorthat, das war das Pistolenschießen, für das er von Jugend an den scharfen, sicheren Blick, die ruhige Hand gehabt und worin er sich durch fortwährende tägliche Uebung auf unserem Schießstand zum Meister ausgebildet hatte, derweil ich in meiner Studienzeit diese Uebung vernachlässigt hatte. Der Schießstand war es denn auch, auf dem er mich mit Vorliebe zum Wettkampf herausforderte, und natürlich immer im Beisein Miras, die jede Gelegenheit, in meiner Nähe zu sein, mich mit ihrer stummberedten Augensprache zu einem Entschluß zu treiben, bereitwillig ergriff. Auch die Mutter begleitete uns oft zu dem unblutigen Waffenspiel und strahlte vor Freude und Stolz, wenn, wie dies stets geschah, ihr Liebling als unbestrittener Sieger daraus hervorging. Sie wurde nicht müde, Mira auf die Wunder hinzuweisen, die er vollbrachte, wenn er aus einer aufgesteckten Spielkarte in ansehnlicher Entfernung das Aß mitten herausschoß, oder die Kugeln der Reihe nach mit unfehlbarer Sicherheit zwischen die konzentrischen Kreise der Standscheibe sandte, daß die Schußlöcher dort eine regelmäßige Figur bildeten, oder wenn er zwei gleichzeitig aufgeschnellte Glaskugeln rasch hinter einander hoch in der Luft durchbohrte, daß die Splitter wie ein Staubregen zur Erde kamen. Meine weit geringeren Leistungen begleitete sie mit so herzlichem Lachen, so harmlos heiterem, gutmüthigem Spott, daß ich oft, nur um ihr das Vergnügen zu machen, absichtlich stark neben das Ziel oder gar in die blaue Luft schoß. Huberts Schweigen, sein überlegenes Lächeln in diesem Falle hatte etwas Höhnisches, Beleidigendes, Verächtliches, aber die Mutter lachte so hell, so herzlich – – o dieses Lachen, wie es mir seitdem und heute im Ohr gellt! –

Es war kurz nach jener verunglückten Bootfahrt, als wir, Hubert und ich, uns eines Nachmittags wieder nach dem Schießstand begaben; ein Diener folgte uns, der die Waffen und die Munition trug. Mira, deren absonderliches Benehmen bei Tisch allen, mit Ausnahme der Mutter, aufgefallen, war von letzterer gebeten worden, sie irgend eines auf die Vermählung bezüglichen Geschäfts wegen auf ihr Zimmer zu begleiten. Sie gehorchte mit der Miene eines Opfers, nicht ohne einen vielsagenden Blick auf mich, der Hubert und wohl auch dem Vater nicht entgangen war. Etwas später sollten die Damen uns zum Schießstand nachkommen, und auch der Vater wollte sie heute begleiten. Schweigend schlugen der Bruder und ich den Weg dorthin ein, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Mir brannte Miras letzter Blick, der stumme flehende Opferblick, den sie mir zugeworfen hatte, ehe sie der Mutter zu dem verhaßten Geschäft gefolgt war, und aus dem ich deutlicher, dringender denn je die verzweifelte Bitte: „Befreie mich, ende diese Qual, die ich nicht länger tragen kann!“ herausgelesen hatte, wie ein glühender Vorwurf auf der Seele. Ja, ich mußte ein Ende machen mit diesem Zustand, gleichviel wie! So konnte es nicht länger fortgehen! Aehnliche Gedanken mochten Hubert beschäftigen, der gesenkten Hauptes mit düsterer Stirn neben mir herhinkte, den stützenden Arm des Dieners verschmähend.

(Fortsetzung folgt.)




Der Nordostseekanal im Herbst 1889.

Ein Ueberblick von Gerhard Walter.0 Mit Zeichnungen von Hans Hampke.

Trockenbagger.

Die gerade Linie ist der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten“. So lautet ein mathematischer Grundsatz, den nicht zum wenigsten die Schiffahrt sich praktisch von je her angeeignet hat. Die Straße des Seemanns führt immer gerade aus. Kein Gebirge lenkt sie ab, kein Fluß nöthigt zum ausweichen, kein Abgrund versperrt sie und zwingt zu langen Umwegen. Wenn aber Hindernisse der geraden Fahrt auf dem Wege sich darboten, den das Schiff zu machen hatte, da ging von alters her das Bestreben darauf hinaus, sich ihrer zu entledigen, wo eine Möglichkeit sich dazu bot; das heißt da, wo dies Hinderniß nicht allzubreit und nicht allzuhoch war, es zu durchstechen und durch einen Kanal zu beseitigen, der eine künstliche Wasserstraße zwischen zwei bisher getrennten Gewässern bilden könnte.

Zum Theil hat in Urzeiten schon die Natur solchem Bedürfniß durch kolossale Umwälzungen, durch vulkanische Einsenkungen oder durch furchtbare Sturmfluthen abgeholfen, indem sie Verbindungen zwischen größeren, einst nicht verbundenen Wasserbecken herstellte und selbst Kanäle schuf, von denen wir ohne weiteres behaupten können, daß, wenn unsere Kulturperiode sie nicht vorgefunden hätte, sie dann nothwendig auf künstlichem Wege hätten hergestellt werden müssen. Ich nenne den „Kanal“ zwischen England und Frankreich, die Straße von Gibraltar, die Straße von Messina, den Hellespont und den Bosporus.

An drei Stellen hat aber die Natur die Verbindung zwischen zwei Meeren nicht geschaffen, die Hindernisse nicht hinweggeräumt,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 842. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_842.jpg&oldid=- (Version vom 1.1.2023)