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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

die Hand! gebt Euch die Hände! Ist das die brüderliche Liebe, zu der ich Euch beide herangezogen habe? Die Eintracht, die Ihr vor Augen gehabt in Eurer Eltern Ehe, die Liebe, mit der wir Euch gleichmäßig umfangen nach Eurem Bedürfen? Was –“

„Vor allem, was ist geschehen?“ fragte gebieterisch der Vater. „Die Empfindungen nachher! die Thatsachen voran! – Du hast zu sprechen, Hubert! Was hat Erwin Dir gethan?“

Hubert hielt einen Augenblick inne, dann stieß er ein kaltes „Nichts!“ hervor. „Er hat mir nichts gethan!“ – und setzte dann mit leidenschaftlicher Bewegung hinzu: „Im Gegentheil! er soll mir zu danken haben. Ich mache ihn zum Majoratsherrn von Groß-Stegow! Er kann sie haben, die schöne Eveline! Alle kann er sie haben! – Ich werde mich nie verheirathen!“

„Schweig, Thörichter!“ fuhr der Vater ihn an. „Was hast Du zu bestimmen, was zu wollen, als mir Rede zu stehen, wenn ich’s befehle!“

„Ach!“ klagte die Mutter, „soll er’s denn noch aussprechen müssen? Ihr hört es ja! Er hat Eveline geliebt und sie hat ihn verschmäht!“

„Nein, nein!“ rief Hubert, „nicht das eine, nicht das andere!“ – Er erzählte darauf sein Erlebniß, und da die Mutter ihm die Arme entgegenbreitete, warf er sich an ihre Brust, sein Antlitz an ihrer Schulter verbergend.

Der Vater sah finster darein. Des Sohnes Geschick ging ihm zu Herzen, aber er verrieth es nicht.

„Du willst ein Mann sein!“ sagte er, „und das elende Geschwätz eines niedrig denkenden Weibes wirft Dich derart um, daß Du darüber vergißt, was Du Dir selber schuldig bist und mir und unserem Hause! Was wird sie von Dir sagen, die Langenau, wenn wir, wie Du es zu wünschen scheinst, jetzt plötzlich mit ihr brechen? Was anderes, als was Deine Mutter infolge Deines törichten Gebahrens eben selber vermuthete?“

Er hielt inne und ging offenbar mit sich zu Rathe; und wie es seiner Natur gemäß war, rasch einen festen Entschluß zu fassen, sprach er: „Du mußt endlich mit Dir ins Klare kommen, Hubert, wenn Du Dir die Zukunft nicht trüben, das Leben nicht verbittern willst. Dein Schicksal ist kein gewöhnliches; um so verständiger muß es getragen werden, damit es ein möglichst ehrenvolles und würdiges werde. Für den, der mit Glücksgütern reich ausgestattet ist, wie Du es bist, liegt der Wunsch, sie voll genießen zu können, nahe. Aber die Natur hat Dich nicht begünstigt –“

„Die Natur!“ wehklagte die Mutter.

„Keine Klagen und unnütze Reue!“ fiel der Vater ein, und sich wieder zu Hubert wendend, fuhr er fort: „Du bist unschön und bist lahm, aber Du bist ein gesunder Mann und als solcher hast Du den natürlichen Zug zu den Frauen, deren Wohlgefallen durch Dein Aeußeres zu gewinnen Du keine Aussicht hast. Du mußt das, was Dir fehlt, durch die Bildung Deines Geistes und Herzens zu ersetzen, Du mußt Neigung zu erwecken trachten, indem Du Dich liebreich zeigst. Durch die Schwäche der Mutter, durch meine zu weit gehende Nachsicht für diese hast Du bisher nur Dir und Deinen Neigungen gelebt. Du bist berufen, dereinst das Erbe unseres Hauses zu verwalten – und hast kein Recht, das abzulehnen, wenn ich Dich nicht der Pflicht enthebe. Von dem Tage ab, da wir nach Stegow zurückkehren, trittst Du in meinen persönlichen Dienst und stehst mir bei in der Bewirthschaftung und Verwaltung meiner Güter. Du wirst die Aufsicht über die Schule, wirst die Armenpflege übernehmen. Und wenn es Dir gelingt, wie es mir und unsern Vorfahren gelungen ist, das Zutrauen und die Verehrung der Leute zu gewinnen, wenn Du für andere zu leben gelernt haben wirst, wirst Du nicht mehr daran zweifeln, daß es nicht nur das Aeußere des Mannes ist, das die Liebe der Frauen erwirbt. Du wirst die Erfahrung machen, daß ihr Herz sich leicht demjenigen zuwendet, den sie von Verehrung und Liebe umgeben sehen, wirst erfahren, welches Glück darin liegt, glücklich zu machen!“

Es war eine Stunde feierlicher Erhebung. Nie war mein Herz meinem Vater unterthäniger gewesen. Ich küßte ihm die Hand; Hubert, die Mutter lagen an seiner Brust!

Als er sie aus seinen Armen entließ, drückte er auch mir die Hand und schloß mich an sein Herz. „Habe immer Geduld mit ihm,“ flüsterte er mir zu, indem er mir fest die Hand drückte – und diese Hand!! – –


4.

Es lagen dem Datum nach mehrere Monate zwischen dem Tage, an welchem der einsiedlerische Bahnwärter diese Rückblicke in seine Jugend auf das Papier geworfen, und dem andern, an dem er die folgenden Seiten beschrieben hatte. Immer nur in größeren oder kleineren Zwischenräumen hatte er, von seinen Gedanken und Stimmungen bewegt, die Blätter zur Hand genommen, die ich mit stets wachsender Spannung las.

* * *

Ich habe nichts in mir, so fuhren die Bekenntnisse fort, das ich zur Beschönigung vorbringen könnte. Es ist mir kein Unrecht geschehen. Ich selber habe seit jenem ersten Zusammenstoße mit meinem Bruder kein freies Herz mehr gehabt für ihn. Von wem wir uns das Gute mißgönnt wissen, das unser Glück ist, den können wir nicht lieben. – Der Vater sah das, er beschloß, uns zu trennen; die Gelegenheit dafür war zur Hand.

Ich stand im 21. Jahre und hatte mich für die Garde gemeldet. An Ostern hatte ich mich zu stellen. Der Vater sagte, ich solle schon nach dem Weihnachtsfeste nach Berlin übersiedeln, um dort nicht in eine mir doppelt fremde Welt einzutreten. Ich war damit wohl zufrieden, und es ward gleich damals als selbstverständlich angenommen, daß ich nach beendetem Dienstjahr den Abschluß meiner Universitätsstudien in Berlin – ich hatte mich inzwischen längst der Jurisprudenz zugewendet – machen sollte. Für mich war es unzweifelhaft, daß man während meiner Abwesenheit meinen Bruder veranlassen werde, sich eine Frau zu wählen, oder daß man versuchen werde, ihn zur Heirath mit einer entfernten Anverwandten unserer Mutter zu überreden, an welche diese, wie wir alle wußten, stets mit Vorliebe gedacht und gegen welche der Vater keine Einwendung erhoben hatte.

Mich ließen diese Pläne damals völlig kalt. An den Besitz des Majorates hatte ich nie für mich gedacht. Ich wußte mich durch des Vaters Anordnungen wohl versorgt und von Natur so ausgestattet, daß ich mir zutraute, einen mir zusagenden Lebensweg und eine mir angemessene Stellung durch meine eigene Kraft zu erringen, und während ich meinen Pflichten mit Lust und gutem Willen nachkam, vergnügte ich mich in Berlin mit meinen Alters- und Standesgenossen; aber der Durst nach Erkenntniß, der sich schon früh auf der Universität in mir entwickelte, und die Sehnsucht nach einem höchsten Glück, für das ich kaum das Wort zu finden wußte, schwiegen davor nicht, und dem Geiste folgend, der in jenen Tagen in gewissen Kreisen herrschte, sah ich, zu völligem Unglauben übergegangen, mit dem Stolz des Materialisten auf alle diejenigen herab, die ihre Befriedigung darin finden konnten, sich auf ein geheimnißvolles Unbekanntes, auf ein höchstes Wesen und dessen allmächtiges Walten zu verlassen, das zu begreifen sie nicht imstande waren. Und mit den philosophischen Systemen, an denen ich mich der Reihe nach zu halten, zu stützen, zu erheben trachtete, war es dasselbe. Immer stieß ich auf ihrem Grunde noch auf ein Letztes, das ohne wirklichen Beweis, als wirkende Ursache, als Kraft angenommen werden mußte – immer fand ich mich vor Goethes: „und weiß nun, daß wir nichts wissen können!“ – und doch wollte dies trostlose Nichtswissenkönnen mir das Herz verbrennen.

Ich kam mir in dem Abweisen dessen, woran andere sich getrösteten, wie ein Titan vor und betraf mich dabei mitunter auf einem Verschen, das ich in früher Zeit einmal bei meiner Mutter von einer schönen Frau vernommen hatte. Es lautete:

„Wenn aller Welt Herrlichkeiten
Zusammenblühten in einer Blume der Au!
Und aller Welt Süßigkeiten
Zusammenflössen in einem Tropfen Thau!
Den Tropfen, aus der Blume, in einem Zug –
Den möcht’ ich trinken, dann hätt’ ich genug!“

und es rief in mir mit genußsüchtigem Verlangen: die höchste Liebe der schönsten Frau! sie allein ist das eigentliche Glück! – und ich hatte nur den flüchtigen Rausch der Sinne, hatte in ihm ihre rasche Uebersättigung gekannt.

Mitten in dem Frohsinn der Jugend und meiner Genossen war ich ein an sich selbst Verzweifelnder, als ich unerwartet mitten im Winter die Nachricht erhielt, daß die Eltern sich entschlossen hätten, Casimira von Gliwitzka als Gesellschafterin für die Mutter in das Haus zu nehmen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 838. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_838.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)