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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

geschlossenen Kutsche an der Seite des berühmten Irrenarztes Hofrath Zeller in die Heilanstalt nach Winnenthal abführen zu sehen …

Auch in diesem Nervenasyl hatte Lenau oft noch lichte Augenblicke. In solchen erfreuten ihn die Briefe von Marie am meisten, während ihn die von Sophie aufs tiefste erregten, so daß ihm fortan nur die ersteren übergeben wurden. In einem der Briefe von Sophie kam der Vers vor:

„Duck dich und laß vorübergahn;
Das Wetter will sein’n Willen han.“

Lenau aber schrieb darunter mit flüchtigen Buchstaben: „Ich ducke mich nicht!!!“ Das „nicht“ dreimal unterstrichen.

Und er mußte sich doch ducken, obwohl er mit aller Macht gegen den tückischen Dämon ankämpfte, der sein Geistesleben zu vernichten drohte. Noch einmal, im Juli des folgenden Jahres (1845), kam Marie Behrend mit ihrer Mutter nach Winnenthal. Aber auch diesmal durfte sie Lenau nicht sprechen. Nur aus der Ferne sah sie ihn im Garten spazieren gehen. Und dann schied sie von dem Manne, dem sie ihr Herz und ihr Leben geschenkt hatte. Der Brautschleier ward ihr zum Witwenschleier und ihr ferneres Leben war in völliger Zurückgezogenheit nur der Erinnerung an den theuren Dichter geweiht.

Lenau gedachte ihrer in guten Stunden noch oft mit Liebe. Man erzählt, daß er sehr oft zu Damen, welche die Anstalt besuchten, sagte: „Wie Sie meiner Braut ähnlich sehen! Ach, wie Sie schön sind!“

„Was fällt Ihnen ein, lieber Lenau,“ erwiderte ihm einmal eine Freundin; „ich bin ja alt und gar nicht schön!“

Darauf antwortete der Dichter: „Man muß Sie nur sehen, wie ich Sie sehe, mit den Augen des Herzens.“

Ein Strahl aus den Augen dieser Dichtersonne war auch in das Herz der armen Marie gefallen und hatte ihr Lebensschicksal entschieden Er war aber auch voll genug, um ihr ein treues, unvergängliches Andenken in der Erinnerung aller derer zu sichern, die in Lenau den Dichter des ringenden Gedankens und der unendlichen Sehnsucht verehren.



Sakuntala.

Novelle von Reinhold Ortmann.
(Fortsetzung.)
9.

Im Orchesterraum und auf dem Podium des mächtigen Konzertsaales, in welchem die letzte Probe der „Sakuntala“ stattfinden sollte, begannen sich die mitwirkenden Musiker und Sänger zu sammeln. Da schwirrte es überall von heiterem Lachen und Plaudern, und das große Ereigniß des Tages, die Uebernahme der Hauptpartie durch Rita Gardini, bildete den wesentlichsten Gegenstand aller Gespräche. In den musikliebenden Kreisen Berlins war ja das Zerwürfniß zwischen der gefeierten Primadonna und dem berühmten Komponisten, die früher in allen bedeutenden Konzerten fast unzertrennlich gewesen waren, durchaus kein Geheimniß geblieben. Man hatte es naturgemäß mit Gerhards Verlobung in Verbindung gebracht, und man war nun nicht wenig auf die erste Gelegenheit gespannt, da die beiden Künstler wieder öffentlich zusammen wirken sollten.

Der weite Zuschauerraum in seiner gähnenden Leere bildete zu dem munteren Treiben da oben einen gewaltigen Gegensatz. Auf den ausdrücklichen Wunsch Gerhards war – dem sonst bei Hauptproben üblichen Gebrauch entgegen – der Zutritt jedermann aufs strengste verwehrt worden, und so zeigte sich in den schier endlos hinter einander aufgestellten Sitzreihen nicht ein einziger Hörer. Der tiefste Hintergrund des Saales freilich war in ein vollständiges Dunkel eingehüllt, das für die auf dem Podium Befindlichen undurchdringlich blieb, und unter dem Schutze dieser Finsterniß hatte eine einzige Person dem von Gerhard erlassenen Verbot zu trotzen gewagt. Der Pförtner, welcher der tief verschleierten jungen Dame den Eintritt hatte verwehren wollen, war rasch zur Nachgiebigkeit bestimmt worden, als sie ihm leise und gleichsam verschämt mitgetheilt hatte, daß sie die Braut des Komponisten sei, daß sie ihre Anwesenheit vor demselben aber geheim zu halten wünsche. Er hatte ihr mit großer Zuvorkommenheit die Thür zu den hinteren Plätzen geöffnet, und da saß sie nun mit in den Schoß gefalteten Händen, regungslos wie ein Steinbild auf den Beginn der Aufführung harrend.

Und nun ging eine merkliche Bewegung durch die Schar der oben Versammelten. Die Orchestermitglieder erhoben sich von ihren Sitzen – Gerhard Steinau war erschienen. Lächelnd und mit strahlendem Antlitz verneigte er sich nach allen Seiten, die dargebotenen Grüße erwidernd, und mit der ruhigen Zuversicht eines siegesbewußten Feldherrn nahm er seinen Platz vor dem Dirigentenpulte ein. Und jetzt, fast in dem nämlichen Augenblick, öffnete sich auch die kleine Thür, die aus dem Künstlerzimmer auf das Podium führte, und in einer Straßentoilette von feinster und reizvollster Art – in demselben Anzuge, in welchem sie Astrid vorhin empfangen hatte, trat Rita Gardini zwischen den sich öffnenden Reihen der mitwirkenden Sänger und Sängerinnen hindurch bis hart an die Orchesterrampe vor. Aller Augen waren auf sie und auf den Komponisten gerichtet; aber diejenigen, welche etwas wie eine theatralische Scene erwartet hatten, sahen sich in ihren Hoffnungen durchaus getäuscht.

Eine stumme, höfliche Verbeugung auf beiden Seiten – damit war die Begrüßung abgethan. Das schöne Antlitz der Sängerin zeigte sein gewinnendstes Lächeln, so vertraut und freundlich, als handle es sich um eine Begegnung zwischen guten Kameraden. Und auch Gerhard lächelte, wenn schon einige Beobachter die Wahrnehmung machen wollten, daß der Ausdruck seines Gesichts ein etwas gezwungener sei. Jedenfalls ging der kleine Auftritt blitzschnell vorüber, schon in der nächsten Minute tönten die ersten Accorde des Orchestervorspiels durch den Saal.

Und nun rauschten die einzelnen Bilder der herrlichen Tondichtung in immer gesteigerter Schönheit vorüber. Gerhard hatte den Künstlern, welche ihn bei der Aufführung seines Werkes unterstützten, nur Gerechtigkeit widerfahren lassen, als er von ihnen sagte, daß sie sich ihrer Aufgaben mit wahrhaftem Feuereifer angenommen hätten. Jeder einzelne fühlte die Verantwortung, welche auch auf seinen Schultern ruhte und welche im Falle des Gelingens einen Theil des Erfolges auch auf seine Rechnung kommen ließ, und jeder setzte infolge dessen sein bestes Können ein. Namentlich die Solisten leisteten Bewunderungswürdiges. Weit über alle anderen hinweg aber ragte die Trägerin der Titelpartie, ragte Rita Gardini mit dem zauberischen Wohllaut ihrer unvergleichlichen Stimme und der wundersamen Innigkeit und Tiefe ihrer Gesangsweise.

Unter den Zuhörern auf dem Podium und im Orchester war keiner, der nicht im Stillen die Erkrankung der Wildenfels, welche Ritas Eintreten veranlaßt hatte, als ein großes Glück für den Komponisten angesehen hätte; so gewaltig fiel die naheliegende Vergleichung zu Ungunsten der ersten Künstlerin aus. Man hatte die Gardini niemals schöner singen hören, und wenn sie morgen im Konzert ebenso gut bei Stimme war, als heute auf dieser Probe, so war ein großer Erfolg unausbleiblich. Mit Spannung sah man der schönsten Nummer der ganzen Komposition, jener großen Arie entgegen, in welcher die verschmähte und verleugnete Sakuntala den König an das einst genossene Liebesglück und an seine heißen Schwüre erinnert. Und die Erwartungen derer, welche sich hier einen ungewöhnlich hohen und herrlichen Genuß versprochen hatten, wurden nicht betrogen.

Mit einem sehnsüchtig klagenden Piano, in dem es wie von verhaltenen Thränen zitterte, setzte die Sängerin ein; wie der weiche Gesang einer liebeskranken Nachtigall perlten die Töne aus ihrer Kehle, um dann bei der Erinnerung an die einst durchlebten Seligkeiten höher und immer höher aufzujubeln in heißer Lust und in bestrickendem Verlangen.

Und während dieser Arie, der jedes lebendige Wesen im Saale mit verhaltenem Athem lauschte, fanden auch diejenigen ihre Rechnung, die von den verstohlenen Beziehungen zwischen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 831. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_831.jpg&oldid=- (Version vom 10.4.2020)