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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Als Hubert fast zwei Jahre alt war, kam ich auf die Welt, und auch ich erwuchs an meiner Mutter, an meiner armen Mutter Brust, die nicht ahnen konnte, wen sie in mir groß zog. Ich war gesund und stark. Der Vater freute sich meiner kräftigen Entwickelung, Hubert hatte auch Wohlgefallen an dem lebendigen Geschöpf, das ihm von der Mutter Schoß die Hände entgegenstreckte und ihm durch sein Haar fuhr, wenn er auf seinem Stelzfuß an ihren Knieen lehnte; aber meine freien, oft ungestümen Bewegungen mahnten die Mutter schmerzlich an das, was ihrem Aeltesten versagt war, und je mehr wir heranwuchsen, um so merklicher ward der Unterschied zwischen uns.

Hubert, der nie einen Widerstand gegen seine Wünsche erfahren, dem man alles mit berechneter Fürsorge entgegen gebracht, was irgendwie begehrenswerth für ihn erscheinen konnte, war in dem beständigen Beisammensein mit der Mutter bei seiner glücklichen geistigen Begabung und seinem guten Herzen ein liebenswürdiger Knabe geworden; indeß, er mußte es doch, als ich erst fest auf meinen Füßen war, und jemehr ich frei wurde in meinem Thun und Lassen, bemerken, daß mir vieles möglich, was ihm versagt war; und gewohnt, seinen Willen als Gesetz für seine Umgebung anzusehen, hatte ich frühe schon Befehle von ihm zu hören, „laufe nicht Erwin!“ – oder „klettere nicht, Erwin! ich kann Dir nicht nach!“

Oftmals ließ ich mir das gefallen, denn seit ich zu denken und zu begreifen gelernt, hatte ich von unserer Mutter die Weisung erhalten, daß ich dem „armen Hubert“, oder dem „guten Hubert“, denn nur so nannte sie ihn mir gegenüber, nachzugeben habe, daß ich mich meiner freien Glieder in seiner Anwesenheit nicht in einer Art bedienen solle, die ihn zu schwer an sein Gebrechen erinnere; und wenn ich auch geneigt war, mich diesen Weisungen zu fügen, so war doch die natürliche Folge davon, daß ich Hubert mied, wenn ich nach gesunder Knaben Art meines Daseins froh werden wollte.

Der Vater selber ermunterte mich dazu. Er hatte für mich und den mir gleichalterigen Sohn unseres Amtmanns ein paar schottländische Ponies kommen lassen, und wir beide, ich und Fritz, hatten es mit sieben Jahren gelernt, den Vater sowohl als den Amtmann zu Pferde zu begleiten, während die Mutter mit Hubert sich des Wagens bediente. So bildete sich mit Naturnothwendigkeit frühzeitig eine Zwiespältigkeit in der Familie aus; denn trotz der vorsorglichen Liebe, die mein Vater seinem Aeltesten und die meine Mutter mir bewies, hatten wir das sichere Gefühl, daß meinem Vater das Herz aufgehe gegenüber seinem gesunden Kinde, und daß die Gesundheit desselben in der Mutter den ewigen Kummer um den Aeltesten und die Gewissensbisse wachrief, mit denen sie sich quälte.

Meinen Bruder aus dem Hause zu thun und ihn einer öffentlichen Schule zu übergeben, in welcher eine Schar von gesunden Kindern nicht die Rücksicht auf ihn nehmen würde, an die man ihn unter den Augen unserer Mutter gewöhnt, davon hatte vor dieser nicht die Rede sein können, da es ohnehin auf den Gütern der vermögenden Familien Brauch war, die Knaben im Hause zu behalten, bis sie für die höheren Klassen der städtischen Lehranstalten reif waren. So hatte man denn aus einer der gerühmtesten katholischen Erziehungsanstalten auf Empfehlung des Fürst-Bischofs zeitig einen Lehrer für uns kommen lassen, dessen Gelehrsamkeit ihn befähigte, die Ausbildung Huberts ganz und gar zu vollenden, wenn man mich nach Königsberg auf das Gymnasium schicken würde, auf dem ich mich für die theologischen Studien vorbereiten sollte.

Doktor Sylvester war, wie es sich von selbst verstand, ein strenggläubiger Katholik und schon dadurch, abgesehen von seiner Bildung und seiner feinen Sitte, ganz nach dem Herzen meiner Mutter gewesen, die sich bei ihrem Gemüthszustande der Religion und der Kirche immer fester und mit wachsender Erbauung hingegeben. Daß er uns in diesem Sinne erzöge, hatte sie dem Doktor als ihr höchstes Verlangen ausgesprochen, und da Hubert, je mehr ihm die Beschränkung klar wurde, die sein Gebrechen ihm auferlegte, desto mehr von der Heiterkeit seiner Kindheit einbüßte, so fand bei ihm unseres Lehrers Deutung, daß der Herr ihm eine besondere Lebensaufgabe gestellt, ihn bestimmt habe, nicht an sich und sein Glück zu denken, sondern für das Wohl der Menschen zu leben, deren Herr auf den Gütern zu werden er dereinst berufen sein würde, eine zeitlang ein ihm schmeichelndes Gehör. Er kam sich in dieser Entsagung besser als andere, und viel besser vor als ich.

Das änderte sich jedoch plötzlich, als es sich eines Tages herausstellte, daß Hubert sitzend die Pistole bei seinem sehr scharfen Auge mit Sicherheit handhaben konnte. Der Gedanke, daß man ihn unberechtigt gehindert habe, sich frei der Körperkräfte zu bedienen, die er doch besaß, erwachte lebhaft in ihm. Er verlangte sie zu bethätigen. Er forderte, daß man ihm beim Fahren die Zügel der Pferde, im Boote ein Ruder in die Hand gab, und es zeigte sich, daß er wohl imstande war, mit gut eingefahrenen Pferden einen Wagen zu lenken, daß er auf dem Flusse, der sich durch unsere Güter hinzog, für eine Weile ein Boot oder das Steuer des Segelschiffes zu führen vermochte, dessen man sich für den Transport innerhalb unseres Besitzes bis zum Haff bediente.

Es kam damit ein neues Leben über ihn. Er entzog sich, soweit es anging, der beständigen Ueberwachung durch die Mutter, der Vater ermunterte ihn in seinen Unternehmungen, weil er sich wohl den Vorwurf machen mochte, der Aengstlichkeit seiner Frau zuviel nachgegeben zu haben, und ich hatte meine Freude daran, als er sich so gleichsam mit mir in Reih und Glied zu stellen begann.

Um seinetwillen wurde ein neuer Schießstand eingerichtet, ein niedriges Gefährt angeschafft, das er ohne Hilfe besteigen konnte, und des Sohnes wachsende Zufriedenheit wirkte auf die Mutter zurück, die nun selber den Fehler einzusehen anfing, den sie in seiner bisherigen Erziehung begangen. Sie strahlte vor Freude, wenn Hubert sie in seinem Wagen fuhr, sie machte Besuche mit ihm in der Nachbarschaft, das frühere gesellige Leben kehrte wieder in unser Haus zurück, und nachdem ich in die Stadt auf das Gymnasium geschickt worden, und dann auch Doktor Sylvester ihn verlassen, lernte Hubert es mehr und mehr, sich als den Sohn des Hauses darzustellen, dessen Freunde und Gäste dem Majoratserben natürlich ihre Beachtung nicht versagten.

Er und ich waren als Kinder stets gute Freunde gewesen, und wir blieben es auch, obschon oder vielleicht gerade weil wir, seit ich auf das Gymnasium geschickt worden war, seltener beisammen waren. Allerdings brachte ich die Ferien im Vaterhause zu, wenn die Eltern nicht gerade in denselben eine der Reisen machten, bei denen Hubert sie regelmäßig begleitete, und sie kamen auch in jedem Winter für einige Zeit nach der Stadt. Aber ich wohnte bei dem Oberlehrer, bei dem ich in Pension war, hatte, nachdem ich die Universität bezogen, meine eigene Wohnung, der Schulbesuch, die Kollegien, meine Arbeiten und der Verkehr mit meinen Genossen nahmen einen großen Theil meiner Zeit in Anspruch, abends wurden das Theater, Konzerte, Gesellschaften besucht, und war man dann einmal allein in dem Gasthof beisammen, in welchem meine Eltern abzusteigen gewohnt waren, so gab es des Erzählens immer soviel, daß man es darüber bis zu einem gewissen Grade übersehen konnte, wie ich und Hubert, der durch seine Reisen und durch die auf ihnen empfangenen Eindrücke mir gegenüber an Selbstgefühl gewonnen und sich mehr und mehr als den Bevorzugten zu empfinden gelernt hatte, auch in anderem Sinne auf verschiedene Wege geriethen, da Hubert fest in seiner Strenggläubigkeit beharrte, während ich von derselben damals mehr und mehr eingebüßt hatte.

Da ich wußte, wie dies die Mutter schmerzen würde, hielt ich es vor ihr und vor den Meinen überhaupt zurück, wie hart der Zweifel mich erfaßt, welchen Kampf ich in mir durchzuringen hatte, wenn ich nach meinen philosophischen und naturwissenschaftlichen Kollegien, die ich im Drange nach Aufklärung besuchte, sie zur Messe zu begleiten hatte, und wo in einer Familie sich solch innerer Zwiespalt entwickelt, ist die Gefahr weiterer Entfremdung vorhanden, besonders für eine Natur, die, wie die meine, auf Offenheit angelegt war.

Daneben konnte ich es mir nicht verbergen, daß Hubert eine gewisse spottende Feindseligkeit gegen mich nur schlecht verbarg, seit ein unglücklicher Zufall ihn einmal das Gespräch zweier mit meiner Mutter befreundeter Frauen anhören ließ, das darauf hinausgelaufen war, wie Groß-Stegow mehr werth sei als ein Paar gerader Beine und ein hübsches Gesicht, und wie ein gutes und dabei gescheites Mädchen doch schwerlich bei einem sonst liebenswerthen Manne an nichts als an seine Unschönheit und sein Gebrechen denken werde, besonders wenn er eine so große Entschädigung dafür zu bieten habe, wie dereinst mein Bruder.

Das gescheite Mädchen, um das es sich dabei handelte, war aber niemand anders gewesen als die reizende Eveline von Langenau, der wir beide, jeder auf seine Weise, huldigten, ohne daß ich vorläufig an Heirathen denken konnte, während für meinen Bruder die Verhältnisse natürlich anders lagen.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 827. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_827.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)