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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

ihm offen gestanden; in allen würde er Aussichten auf ein Fortkommen gehabt haben. Ich konnte ihn mir unter den Goldgräbern in Kalifornien, unter den Viehzüchtern in Australien, in einem vornehmen Abenteurerleben, auch in den Räumen eines Klosters konnte ich mir Erwin denken, und hatte mich Jahre lang gewöhnt, an seinen Selbstmord zu glauben, denn das alles wäre bei seinem Charakter wahrscheinlich gewesen. Aber so lange Jahre der völligen Abgeschiedenheit mitten in dem an ihm vorüberbrausenden Treiben des Lebens? – Ich konnte es nicht verstehen.

Das Herz war mir zusammengeschnürt. Das völlig Unbegreifliche hat eine lähmende Kraft. Mir bangte vor dem, was ich zu hören bekommen konnte, und doch zog das tiefste Mitleid mich zu dem Hingegangenen. Ich fragte mich, womit ich, gerade ich, sein Vertrauen verdient? Ich sagte mir, er könne doch vielleicht noch einen Wunsch gehegt, eine Pflicht zu erfüllen gehabt haben, für die er mich eintreten zu machen beabsichtigt. Es galt, einem letzten Willen nachzukommen. Er hatte bestimmt, daß ich seine Aufzeichnungen lese – und ich faltete die Blätter auseinander.

Es war ein starkes Heft aus grobem Papier, mit fester Handschrift beschrieben. Auf dem Titelblatt standen die Horazischen Worte:

„Der ich der Meinen vergaß, sie mögen mich wieder vergessen!“

Die erste Seite trug das Datum des sechzehnten August. Sie war also acht Tage nach jenem Abend geschrieben worden, an welchem ich ihn wiedergesehen hatte, und sie hub mit der Wiederholung jenes Horazischen Ausspruches an. Es folgte dann eine ganze Reihe offenbar wie im Selbstgespräch zu verschiedenen Zeiten auf das Papier geworfener Betrachtungen, die kein Datum zeigten, und ihnen schloß sich endlich eine ruhig dahinfließende Erzählung an, die Lebensgeschichte des Hingegangenen.

Man sah, wie die Verschlossenheit, das Sichselbstvergessenwollen, zu dem er sich verdammt, ihm doch endlich unertragbar geworden war; wie er mit sich gerungen, wie das Bedürfniß der menschlichen Natur, sich kund zu geben, schließlich in ihm den Sieg davon getragen, und wie er, ohne ihn auszusprechen, eben durch die Sendung seiner Aufzeichnungen an mich, den Wunsch verrathen, nicht völlig vergessen zu werden, sondern Auskunft zu geben über sich, sein Leben, sein Leiden, seine Buße.

So meine ich denn in seinem Sinne zu handeln, wenn ich den Inhalt des Heftes der Oeffentlichkeit übergebe. Die Personen, mit denen er gelitten, an denen er sich versündigt, und um die er gebüßt, sind vor ihm aus der Weit gegangen. Sein Andenken, sein Geschick, seine Gefangenschaft und sein Verschwinden, sind aber vielleicht doch noch in dem Gedächtniß von einzelnen lebendig, und wie er sich in dem unabweislichen Bedürfniß seines Herzens meinem Urtheil bloßgestellt, gebe ich ihn dem allgemeinen Urtheil preis. Es wird nicht härter sein, als er es sich gesprochen. Auch seinen Namen halte ich nicht mehr zurück, da er selbst ihn und die Menschen nennt, von denen er stammt, in deren Mitte er gelebt, im Zusammenhang mit welchen sich sein Geschick vollzogen!


3.
Wärterhaus Nr. 7 – Station … den 16. August 1877.
„Der ich der Meinen vergaß, sie mögen mich wieder vergessen!“

Wie oft habe ich mir die Worte vorgesprochen, wie ernst es gemeint mit ihrem Sinne! Vergessen wollt’ ich sein von allen! meine Vergangenheit wollte ich vergessen! mich selber vergessen! – Wie wenig kennt sich der Mensch! wie wenig weiß er, was er im nächsten Augenblick empfinden, denken, wollen wird!

Das beharrliche Wollen langer Jahre umgestoßen, gewandelt in sein Gegentheil! Und wodurch? – durch einen Zufall! – durch den Anblick einer Frau, die mich mit raschem Blick erkannt, die, älter als ich, einst theil an mir genommen, die von mir gewußt, mir Wohlwollen bezeigt in den Tagen, in denen ich noch geglaubt, die Welt sei dazu da, damit der Mensch glücklich in ihr werde nach seinem Glücksbegriff, den er sich gebildet nach dem Irrthum der Verblendung, der Selbstüberschätzung, die er ererbt hat von Verblendeten wie er selber.


Sonderbar! wie die Feder sich mir versagt! Meine eigene Handschrift sieht mich fremd an, nun ich etwas anderes schreibe, als die paar Zahlen und Worte, welche seit Jahren der Dienst mir auferlegt. Ich bin mir ein Fremder mit der Feder in der Hand, ein Fremder in der Gemüthsverfassung, in der ich mich befinde.

Und ich spreche von Zufall! – Zufall! Zufall soll es sein, daß der Wagen eben vor meinem Wärterhause hielt, daß sie nach meiner Seite saß, daß ihr Auge sich auf mich richtete, daß das meine sie traf! – Es ist Gottverleugnung, von Zufall zu sprechen! Er hat es so gewollt! Ich soll sie noch einmal in mir durchleben, die langen Jahre meiner ungläubigen Selbstüberhebung. Ueberwältigend, mich bezwingend steigt es noch einmal vor mir auf, das wilde, verzweifelnde Ringen meiner jungen Jahre! des Lebens, das wir hochmüthig als das „Leben in der Welt“ bezeichnen, als ob die Spinne hier vor meinem Fenster ihr Leben nicht ebenso lebte in derselben Welt!


Wie eine Fata Morgana steigen sie vor mir auf, die Gefilde, in denen ich meine Jugend verlebt: die kornbesäete Ebene, über die wir hinwegsahen bis zu dem glänzenden Spiegel des Frischen Haffes, und die Kiefern- und Tannenwälder, die von der anderen Seite sich in dem Flachlande hinzogen, daß sie anzusehen waren wie eine lange grüne Wand, über der nur hier und da sich eine kleine Aufwellung bemerkbar machte.

Mein Großvater hatte das Haus gebaut, und da er, am Sankt Hubertustage geboren, den Namen eines Schutzpatrones trug, hatte er dem Hause, das füglich ein Schloß zu nennen war, auch die Form eines lateinischen H gegeben, das, breit hingelagert, mit seinem Hauptbau von zwei gleichförmigen Seitenflügeln eingefaßt war.

Wir waren kein altadliges Geschlecht, sondern ursprünglich Hörige, Unterthanen der Bischöfe gewesen; aber wir zählten zu meiner Zeit, d. h. als ich geboren wurde, schon lange unter die alten Geschlechter des Landes, die von sich und ihrem Herkommen wußten. Bereits zu den polnischen Zeiten und lange vor diesen hatten Leute unseres Namens in Braunsberg, Frauenburg und Heiligenbeil gelebt und waren dort immer zu Diensten in den jeweiligen Residenzen der Bischöfe, in den Schlössern, den Schloßgärten, in den Forsten verwendet worden. Allmählich waren sie dabei emporgekommen. Einige waren freigelassen und Bürger geworden. Sie hatten schon in der Mitte des vorigen Jahrhunderts Domänen der Bischöfe zur Zufriedenheit verwaltet, Vertrauensämter im Lande eingenommen. Einer und der andere hatte erst ein kleines Stück Land, dann größeren Grundbesitz erworben, dann fürstlichem Dienst entsagt und seine Söhne studieren lassen. Ein paar der unsern waren dann wieder als Richter in den Staatsdienst, ein paar andere in den geistlichen Stand getreten. Es war dem Geschlechte nichts Uebles, es war der Mehrzahl seiner Glieder Gutes, Ehrenhaftes nachzusagen; und sich zu uns zu rechnen, zu den Klaritz zu gehören, sahen die Leute als einen Vorzug an.

Das war so fortgegangen von einem Geschlecht zu dem andern. Mein Großvater schon war nach den Kriegsjahren für mannigfache gute Dienste, die er dem königlichen Hause in der Franzosenzeit geleistet, während der Hof in Ostpreußen gelebt, in den Adelsstand erhoben worden, und als um 1829 mein Vater von seinem Vater als einziger Erbe Groß-Stegow übernahm, war er damit ein reicher Mann geworden, denn Stegow galt für eine der stattlichsten und bestabgerundeten Besitzungen in jener Gegend.

Wie der Sinn der Zeit es mit sich brachte, war mein Vater nach England gegangen, um dort die verbesserte Landwirthschaft kennen zu lernen, hatte sich dabei auch weiter in der Welt umgesehen und war just wieder nach Hause zurückgekehrt, als um 1831 die polnische Revolution ausgebrochen, niedergeworfen war und nach dem Siege der Russen das flüchtige Gielgudsche Corps und überhaupt eine große Anzahl von flüchtenden polnischen Offizieren über die preußische Grenze gekommen, denen, soweit sie es zu ermöglichen vermocht, ihre Familien nachgefolgt waren.

In den Städten, auf den Gütern, überall fand man polnische Flüchtlinge, und trotz der engen Verbindung der russischen und preußischen Regierung leistete man den Geflüchteten Vorschub, denn man hatte die Tyrannei stets gekannt und beklagt, unter der die Polen zu leiden gehabt hatten. Sie wurden fast überall mit warmer Sympathie empfangen, wurden als Gäste, nicht als Einquartierung aufgenommen, und sie wußten durch ihr Betragen noch lebhaftere Theilnahme für sich zu gewinnen.

Auch mein Vater hatte einen polnischen Militär, den Major von Drischewski, bei sich aufgenommen. Er war einer der Helden des vierten, bei Ostrolenka fast ganz aufgeriebenen Regimentes gewesen, und ein Schuß, der ihm die Lunge gestreift, hatte gleich

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