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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Aber von wem sprichst Du denn?“

„Von dem Bahnwärter, an dem wir eben vorüber gekommen sind!“

„Und den willst Du gekannt haben?“ fragte meine Begleiterin lachend. „Welch ein Einfall! Gespenster am hellen Tage! an der Eisenbahn!“

In dem Augenblicke hielt unser Zug aufs neue. Wir waren am Ziele. Die Thüren des Wagens wurden geöffnet, die Packträger drängten sich heran. Der Kondukteur des Omnibus, der von dem Gasthof kam, in welchem ich mir eine schon zum öfteren benutzte Wohnung bestellt, nahte sich grüßend, uns das Handgepäck abzunehmen. Wir wurden in den Omnibus geladen, Fremde zur Rechten, Fremde zur Linken. Die Straßen, die Plätze blieben hinter uns zurück, Altbekanntes, Neuentstandenes glitt an uns vorüber im hellen Licht der sinkenden Sonne.

Wir hielten vor unserem Gasthof. Der Wirth, seine kleine rührige Frau, der bekannte Thürwart kamen uns mit freundlicher Achtsamkeit entgegen. Wir durchmaßen die kleine Hausflur, die Galerien, stiegen die Treppe hinan, fanden uns in den früher bewohnten Räumen mit Behagen wieder. Eine kurze Rast, ein Ausblick von dem Balkon auf den Fluß, ein leichter Imbiß, und meine Gefährtin zog sich in das für sie bestellte Zimmer zurück. Die Hausknechte brachten den Koffer herauf, mein Kammermädchen begann sie aufzuschnallen und das Nothwendige auszupacken, um in den Räumen, die uns für einige Tage aufnehmen sollten, etwas wie eine Heimath herzurichten, so gut sich das eben in der Fremde machen läßt.

Ich aber saß am Fenster und schaute in den Abend hinaus. Ich wurde den Gedanken an ihn nicht los. Es konnte kein anderer gewesen sein als er. Es ließ mir keine Ruhe.

Man hatte ihn in Schweigen begraben seit den Ereignissen, die ihn in das Gefängniß gebracht, ihn ausgestoßen aus seiner Familie und aus der Gesellschaft, in welcher er gelebt. Ich entsann mich, wie er sich dann später unter der Zahl jener Gefangenen befunden, welche 1867 oder 1868 bei einer Vermählung in dem Herrscherhause begnadigt worden waren, und wie man damals erzählte, daß er während seiner Gefangenschaft sich dem Glauben, der Frömmigkeit zugewendet, und daß er in ein Kloster einzutreten denke. Unmöglich war mir das damals nicht erschienen.

Einer katholischen Familie angehörend, war er in seiner Jugend für die Kirche bestimmt gewesen, und eben das hatte in ihm einen Widerstand gegen dieselbe und jenes Verlangen nach völliger Unabhängigkeit, nach freier Willkür hervorgerufen, das ihn zuletzt ins Verderben gestürzt. Phantastisch war er immer gewesen. Es war also nicht mit Bestimmtheit vorauszusagen, was er thun und nicht thun werde, nichts hatte undenkbar für ihn scheinen können. Geschrieben hatte er nach seiner Freilassung an keinen seiner Verwandten, und wie die Verhältnisse lagen, war das natürlich gewesen. Auch keiner seiner früheren Umgangsgenossen hatte etwas von ihm gehört, bis wir alle plötzlich durch die Nachricht aufgeschreckt wurden, daß er, vermuthlich verzweifelnd an sich selber, bei dem Uebergang über den Mont Cenis seinem Leben ein Ende gemacht haben müsse. An einem der steilsten Abhänge der alten Gebirgsstraße hatte man seine Kleider, in denen sich sein Paß und eine geringe Summe Geldes befunden, mit einem Strick zusammengeschnürt, nach dem Schmelzen eines starken Schneefalls an dem Abhange liegen sehen. Mit dem Schnee war natürlich auch die Spur seiner Tritte verwischt, und der Weg nicht zu erkennen gewesen, auf dem er seinem Ende entgegen gegangen war. Seine Leiche hatte man nicht aufgefunden, obschon die Familie auf die Kunde hin mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln die möglichen Nachforschungen nach derselben veranstaltet. Der Gedanke, daß ein Verbrechen an ihm begangen worden, war ausgeschlossen, weil eben die Uhr, die er getragen, und die kleine Summe Geldes, die er mit sich geführt, in den Kleidern gesteckt hatten.

Aller dieser Einzelheiten entsann ich mich genau. Ich wußte, daß mich in diesem Falle mein Gedächtniß nicht betrog, und ich konnte mich trotzdem nicht überzeugen, daß mein Auge sich in solcher Weise getäuscht haben sollte.

Ich träumte von ihm in der Nacht, ich war am Morgen versucht, mich bei dem Wirthe oder bei der Bahnverwaltung nach dem Wärter zu erkundigen, neben dessen Häuschen sich das Kruzifix befand. Indeß meine Ueberlegung hielt mich davon zurück.

Lebte er noch, hatte er sich in solcher Weise verborgen, wie durfte ich die Achtsamkeit auf ihn zu lenken wagen? Hatte er doch den Blick sofort von mir abgewendet, als er gesehen, daß mein Auge sich auf ihn heftete.

Es war und blieb mir ein Räthsel, gerade darum aber beschäftigte das Ereigniß meine Gedanken; und obschon die folgenden Tage mich durch das Wiedersehen von Freunden mannigfach in Anspruch nahmen, blieb mein Sinnen doch bei ihm. Selbst als wir die Gegend verlassen hatten, als andere lebhafte Eindrücke und der Lauf der Zeit sich zwischen jenen Tag und mich gelegt, konnte ich der Begegnung, der Erscheinung nicht vergessen, und noch lange nachher kam ich oft mit der Frage auf sie zurück: war es eine Täuschung, war es Wirklichkeit gewesen?


2.

Darüber waren Jahre hingegangen, und ich saß im Hochsommer von 1881 in Sorrent, auf meinem nach dem Meere gelegenen Balkon in dem schönen Hotel Tramontano, als mir der Postbote ein Päckchen brachte, das mit meiner vollen Namensaufschrift versehen, offenbar aber auf weiten Umwegen zu mir gelangt war. Als Absender war die Direktion der … Eisenbahn angegeben. Das kleine Packet hatte mich zuerst in Berlin gesucht und war mir von der dortigen Post nach meinem ihr bekannten Aufenthalte nachgesendet worden. Es war unfrankirt.

Verwundert nahm ich es dem Postboten ab, und als ich den ersten Poststempel erkannte, zuckte eine Ahnung in mir auf. Jene geheimnißvolle Erscheinung stand plötzlich wieder vor mir. Ich öffnete mit rascher Hand den äußern Umschlag. Ein Brief von dem Stationschef der … Bahn lag oben auf. Nach ein paar Worten, die es andeuteten, daß mein Name ihm bekannt sei, lautete das Schreiben kurz und geschäftsmäßig also:

„Am 13. Mai dieses Jahres ist in dem Krankenhause zu … der Bahnwächter Johann Stiller an einem Brustfieber gestorben. Nach den Angaben, die er im Jahre 1869 der Direktion bei seinem Eintritt in ihren Dienst gemacht, war er im preußischen Ermeland geboren und zur Zeit seines Dienstantrittes bei unserer Bahn vierunddreißig Jahre gewesen, so daß er ein Alter von sechsundvierzig Jahren erreicht hat. Unter seinem geringen Besitz, der dem Krankenhause zugefallen ist, hat sich das beikommende Packet mit Ihrer Adresse vorgefunden. Es war unseres Amtes, den Inhalt vor Absendung zu untersuchen, obschon die Aufschrift ihn als „Schriftstück ohne Werth“ bezeichnete. Wir haben diese Angabe als eine richtige befunden, und so gehen denn die Papiere mit der amtlichen Versicherung an Sie ab, daß man von dem Inhalt derselben keine weitere Kenntniß genommen hat. Wir waren schon früher zu der Ueberzeugung gelangt, daß sich hinter dem Bahnwächter Stiller ein Mann der höheren Stände verbarg; da aber keine Requisitionen irgend welcher Art gegen ihn vorlagen und er seines Amtes gewissenhaft waltete, haben wir ihn gewähren lassen, und haben jetzt nur zu wünschen, daß diese Zusendung, die zu veranlassen uns oblag, Ihnen keine ungelegene sei.“


Also doch! – Ich hatte mich damals nicht getäuscht, ich hatte ihn wiedergesehen und auch er hatte mich erkannt!

Nun ich die Gewißheit seines Todes hatte, fand ich es erst recht unbegreiflich, daß er „damals“ noch gelebt, daß er nicht umgekommen war, sich nicht das Leben genommen hatte, wie man geglaubt.

Ich hielt die Blätter in der Hand und sah die Schriftzeichen an, als wären es für mich unlesbare Hieroglyphen. Meine Erschütterung war so groß, daß sie die Neugier nicht aufkommen ließ. Was kam es auch jetzt noch darauf an? Es war ja doch zu Ende! Er war todt! der lebensfroheste, der selbstwilligste Mensch, den ich gekannt, als den ich ihn oft genug gegen ihn selbst bezeichnet. Aber wie war er dazu gekommen, einen moralischen Selbstmord an sich zu begehen, der für ihn härter gewesen sein mußte, als der Untergang, an den er uns alle hatte glauben machen, die wir ihn gekannt? Wie hatte eben er sich zu einem Dasein verdammen mögen, das so weit ablag von den Bereichen, aus denen er stammte, das unermeßlich hart für ihn gewesen sein mußte, wenn er sich auf sich selbst, auf seine Vergangenheit besann?

Gesund, schön, in den Jahren der vollen Kraft, war er aus dem Gefängniß entlassen worden, alle fernen Welttheile hatten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 822. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_822.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)