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verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

No. 49.   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


Eine Erscheinung.

Hinterlassene Erzählung von Fanny Lewald.

Die nachfolgende Erzählung, die letzte der berühmten Verfasserin, an welcher sie bis zu ihrem Tode arbeitete, ist nach demselben auf Grund ihrer eigenen schriftlichen und mündlichen Angaben von berufener Feder vollendet worden. Die „Gartenlaube“ hat das interessante Manuskript von den Hinterbliebenen erworben und freut sich, es nunmehr ihren Lesern darbieten zu können.

1.

Ich nenne nicht die Zeit und bezeichne nicht den Ort, an welchem diese Erscheinung vor mir aufgetaucht ist.

Ich war auf der Reise, hatte den ganzen Tag auf der Bahn zugebracht und war dicht an dem Ziele, an welchem wir einen Aufenthalt von mehreren Tagen zu machen beabsichtigten, als der Zug plötzlich anhielt, weil ein anderer Zug, der den unsern an dieser Stelle zu kreuzen hatte, noch nicht eingetroffen war. Aus meinem müden Hinträumen aufgeweckt, blickte ich zum Wagenfenster hinaus und sah gleichgültig nach dem Wärterhäuschen hinüber. Es unterschied sich in nichts von allen anderen, an denen wir vorübergekommen waren. Ein Paar Gartenbeete mit Gemüsen bestellt, ein paar Georginen und Stockrosen zur Rechten und zur Linken. Selbst daß neben einem Hügel, der sich wie ein Grab ansah, ein Kruzifix aufgerichtet war, hatte nichts Ungewöhnliches. Wir waren in katholischem Lande. Christusbilder und Kapellen fanden sich oftmals, wo man sie am wenigsten erwartete.

Ohne daran zu denken, sah ich nach dem Wärter hinüber. Er stand, die Signalfahne regelrecht an der Schulter, fest auf seinem Posten – und wie mit einem Zauber steigt eine ferne, ferne Vergangenheit vor mir empor. Ein Name, ein Ruf drängen sich mir auf die Lippen. Aber er war ja todt! – Und dennoch!

So erschreckend, so hell wie dieses Mannes Augen hätten eines Fremden Augen nicht aufgeleuchtet, als die meinen ihm begegneten. Obschon er sich mit seiner Signalfahne unbeweglich in seinen Schranken hielt, konnte ich erkennen, daß er mich bemerkt, daß meine Ueberraschung ihm nicht entgangen war, daß er den Blick geflissentlich von dem Wagen abgewendet. –

Indeß, der Telegraph läutete, die Lokomotiven ließen ihre Zeichen erschallen, der vom Süden kommende Kurierzug sauste an uns vorüber, die Bahn wurde dadurch frei, und die Wärterbude und der Wärter waren unserem Blick entschwunden.

„Unbegreiflich!“ rief ich aus.

„Was hast Du?“ fragte meine Gefährtin.

„Ich habe einen Todten lebendig vor mir gesehen! Einen, der gestorben ist vor sieben, acht Jahren!“

„Also eine Aehnlichkeit – mit wem?“ fragte sie weiter.

„Nein! keine bloße Aehnlichkeit! So können zwei Menschen nicht einander gleich sein! Ich habe ihn gekannt in seiner frühen Jugend, ihn danach wiedergesehen in der Kraft und Schönheit, im Glück seiner Mannesjahre –“

„Seine“ Weihnachtsbescherung.
Zeichnung von R. Gutschmidt.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1889, Seite 821. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_821.jpg&oldid=- (Version vom 30.3.2020)