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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

den Speisesaal, wo sie zu gegenseitiger angenehmer Ueberraschung Doktor Rüdiger schon vorfanden, der sich sofort zu ihnen setzte, um sein Bedauern über das gestrige Verfehlen auszudrücken, worauf die Damen etwas verlegen erwiderten, da ihnen ja die Tücke ihres Gebieters schwer aufs Herz fallen mußte.

„Und was steht heute auf dem Programm?“ frug Rüdiger.

„Wir wollen mit dem nächsten Zuge nach Potsdam,“ sagte Anna etwas scheu, „und abends in die Oper.“

„Ich möchte mich sehr gern anschließen,“ meinte der junge Arzt zögernd und halblaut, „aber ich weiß nicht, ob es nicht unbescheiden wäre! Ich hatte gestern ein paarmal das Gefühl, als ob Ihr Herr Schwager lieber mit seiner Familie allein wäre!“ –

Anna schwieg und spielte in tödlicher Verlegenheit mit ihrem Theelöffel, während Helene eine Zeitung vornahm.

„Ist dem so?“ fuhr Rüdiger fort und beugte sich zu ihr, um ihr ins Gesicht zu sehen.

Sie nickte ehrlich – sah aber so betrübt dazu aus, daß er nicht allzu entmuthigt war.

„Und Sie, Fräulein Anna, theilen Sie seine Ansicht?“ fuhr er in noch leiserem Tone fort und schwieg dann erwartungsvoll.

Aennchen sah ängstlich nach ihrer Schwester hinüber. Helene, die jedes Wort hörte, that, als wenn sie den Leitartikel der Zeitung zu morgen auswendig lernen müßte, und wandte keinen Blick davon.

„Nun?“ frug Rüdiger dringend, „sagen Sie nur ein Wort, und ich gehe – und komme Ihnen nie wieder vor Augen! Ein Wort, bitte! Soll ich gehen?“

„Nein!“ brachte Aennchen mühsam, aber mit großer Entschiedenheit heraus, so daß dies „eine Wort“ wenigstens nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig ließ.

Rüdiger, der ebenfalls sich erst durch einen raschen Blick auf Helene versicherte, daß ihre Aufmerksamkeit ganz von der Zeitung gefesselt sei, wagte es, auf dieses „Nein!“ hin seiner reizenden, kleinen Nachbarin die Hand zu küssen, – ein Vorgang, der Aennchen im selben Augenblick auf den höchsten Gipfel der Glückseligkeit hob und in den tiefsten Abgrund der Verlegenheit stürzte, da in ihrem sechzehnjährigen Herzen derartiges noch zu den ungemachten Erfahrungen zählte. Zum Glück trat in diesem bedenklichen Augenblick der Amtsrichter in den Speisesaal. Er sah nicht allzu freundlich drein, als ihm der Verehrer seiner Schwägerin schon wieder auf nüchternen Magen vorgesetzt wurde, und war auffallend wortkarg.

„Beeilt Euch, Kinder,“ trieb er, „es ist bald zehn Uhr und wir wollen noch etwas vom heutigen Tage haben!“

„Das will ich auch,“ bemerkte Rüdiger und erhob sich; „ich wünsche den Herrschaften viel Vergnügen zu Ihren Unternehmungen!“

Er empfahl sich mit einer allgemeinen Verbeugung und einem besondern, sehr vergnügten Blick auf Aennchen, den diese wohl zu deuten wußte, und verließ das Zimmer, während Karl sich die Hände rieb.

„Den habe ich weggegrault,“ sagte er mit großer Selbstzufriedenheit, „und was das Beste ist, noch eh’ er fragen konnte, was wir vornehmen! Wäre ich nur den Lebermann auch mit so guter Manier losgeworden! Nun, einer ist doch wenigstens abgeschüttelt!“

„Das ist ja ganz schön,“ bemerkte Helene und legte die Zeitung zusammen; „Aennchen, hole doch das Opernglas, ich habe es auf unserm Zimmer liegen lassen!“

Während Anna ging, sagte die Amtsrichterin kopfschüttelnd zu ihrem Manne: „Ich begreife Dich nicht, Karl! Was hast Du gegen den netten, jungen Rüdiger?“

„An und für sich gar nichts,“ erwiderte ihr Mann, „aber ich bin doch nicht nach Berlin gefahren, um ein Brautpaar zu segnen! – eine Lage, in die ich unfehlbar kommen würde, wenn wir den Doktor noch zwölf Stunden mit herum schleppten. Er rollt ja schon die Augen wie Billardkugeln – das kenne ich! Das dumme Ding, die Anna, ist imstande und verlobt sich mit ihm! Mit sechzehn Jahren!“

„Nun, das wäre ja kein Unglück,“ warf Helene begütigend ein, „viel älter war ich auch nicht, als wir uns verlobten, Karl, und es ist doch ganz gut ausgeschlagen!“

„Das lag an mir!“ erwiderte der Amtsrichter mit der den Ehemännern eigenen Art, jede ihnen gesagte Liebenswürdigkeit in einen Dolch zu verwandeln, den sie in das Herz ihrer Frau stoßen; „aber jetzt sei still, Helene, da kommt sie wieder! Sie sieht übrigens sehr fidel aus,“ setzte der Schwager lobend hinzu, „es ist ihr also ganz gleichgültig, ob der Jüngling mit uns kommt oder nicht. Setze Du ihr nicht erst etwas in den Kopf!“

Helene lächelte überlegen, da ihr der Grund von Annas Fassung bekannt war; schwieg aber wohlweislich.

Trotz der größten Vorsicht gelang es unserer Gesellschaft nicht, Lebermann zu entgehen, der an der Thür des Hotels lehnte. Er hatte sich mit dem Portier auf eine Unterhaltung eingelassen, und dieser sah infolge der dabei ausgestandenen Langenweile schon ganz elend aus.

Man mußte nun unweigerlich mit dem Apotheker abwandern und Karl es sogar noch ertragen, daß Rüdiger sich auf dem Bahnhof befand und mit einem selbstverständlichen „Sie erlauben?“ in dasselbe Coupé mit Amtsrichters stieg.

Die Fahrt wurde auf diese Weise unter recht verschiedenen Empfindungen zurückgelegt, wenn auch Karl gerecht genug war, um sein Vorurtheil gegen Rüdiger mit jeder Minute mehr schwinden zu lassen. Als der junge Mann beiläufig bemerkte, er müsse den nächsten Morgen wieder nach seinem Heimathsorte abreisen, da sein Vertreter ihm nur bis zu dem Tage Zeit gelassen habe, brachte dieser Hinweis auf eine bereits vorhandene Praxis das letzte Eis des Widerstandes in Karls Brust zum Schmelzen, und Anna, die sich von Lebermann mußte unterhalten lassen, fühlte mit frohem Herzklopfen, daß das Opfer nicht vergebens gebracht wurde.

Man durchwanderte nun mit großem Vergnügen Potsdam mit seinen historischen Denkwürdigkeiten; dann begab man sich nach Sanssouci, wo Lebermann allerdings einige Bitterkeit in den Kelch des Genusses träufelte, indem er mit erbarmungsloser Ausführlichkeit die bekanntesten Anekdoten vom Alten Fritz mittheilte und durch kein ihm entgegengerufenes: „Das kenne ich schon!“ zum Abbrechen seiner Erzählungen zu bewegen war.

„Wenn wir nur diesen Kerl loswürden!“ sagte der Amtsrichter knirschend zu Rüdiger; „helfen Sie mir doch auf ein Mittel denken, daß wir ihn unterwegs verlieren!“

Rüdiger zuckte die Achseln. „Wir nennen solche Leute ‚Klebstoff‘,“ sagte er lachend; „sie sind nicht abzuschütteln. Umbringen könnte man ihn wohl nicht?“

„Es wäre das Einfachste,“ meinte der Amtsrichter, „aber es würde am Ende darüber gesprochen werden.“

Im Schloßgarten zu Sanssouci war das Glück unseren Reisenden hold. Lebermann gab selbst die erwünschte Handhabe, unschädlich gemacht zu werden. Unmittelbar vor der Rückkehr nach Potsdam ließ er sich durch die Farbenpracht einer Georgine verleiten, sie abzupflücken, um seiner Emma damit den handgreiflichen Beweis zu liefern, daß er wirklich an dem historischen Ort gewesen sei. Da faßte ihn ein Gärtnergehilfe mit rauher Hand am Arme und zwang ihn, ihm als straffälliges Subjekt zu folgen – ein Vorgang, der den Amtsrichter zu der feigen Handlungsweise bewog, mit seiner Gesellschaft schleunigst das Weite zu suchen und, ohne auf des Apothekers Winken und Zurufen zu achten, den Häusern von Potsdam zuzueilen.

Die Schwestern empfanden eine Spur von Mitleid mit dem armen Lebermann – die Herren aber freuten sich roh und gefühllos und erklärten, es sei dem Patron sehr gesund, daß seine Missethat sich so blitzschnell gerächt habe.

Höchst vergnügt kam man auf dem Bahnhof in Potsdam an, allein hier bot sich ein unerwarteter Anblick dar. Eine Unmenge von Menschen aller Stände, Klassen und Bildungsgrade raunte lachend, scheltend, tobend durcheinander und suchte mit gänzlicher Nichtachtung ihrer gegenseitigen Menschenrechte die Eisenbahnwagen zu stürmen.

Verschiedene Versuche unserer Freunde, sich an den allgemeinen Eroberungsversuchen zu betheiligen, mißlangen gänzlich, Aennchen, die kraft ihrer sechzehn Jahre noch etwas kindisch war, zerfloß plötzlich in Thränen, da sie das Gefühl hatte, als wenn diese heulende Meute zu keinem andern Zweck auf den Potsdamer Bahnhof gekommen wäre, als um ihr an Leben und Geldbeutel zu gehen. Während Rüdiger sie durch Theilnahme und Zuspruch zu beruhigen suchte – ein der gegenseitigen Zuneigung sehr förderliches Verfahren! – stand der Amtsrichter auf dem Trittbrett eines Wagens, entschlossen, den Zugang mit Güte oder Gewalt zu erzwingen. Hinter ihn auf dasselbe Trittbrett hatte sich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 814. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_814.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)