Seite:Die Gartenlaube (1889) 803.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Na ja – das ist mir ganz gleichgültig!“ unterbrach ihn der Amtsrichter unhöflich, „denken Sie, ich bin nach Berlin gereist, um zu hören, was Sie zu Mittag essen?“

Der unerschütterliche Lebermann lachte herzlich.

„Nein, hört ihn bloß an! Immer muß er mich necken! Ja, ja, Herr Schwarz – wir kennen uns, – was sich liebt, das neckt sich!“

„Da haben Sie recht!“ sagte Karl ausdrucksvoll, „aber nun adieu – wir gehen jetzt!“

„Wo wollen Sie denn hin?“ erkundigte sich Lebermann abermals.

„O – so ziellos bummeln!“ meinte Karl leichthin – nicht wahrheitsgetreu, da er nur auf einen Vorwand sann, seine beiden Herren loszuwerden – beide – denn vermöge des männlichen Egoismus wollte er auch nicht mit einem liebenden Paar spazieren gehen, auf das er beständig acht geben mußte.

„Ziellos bummeln,“ wiederholte Lebermann erfreut, „das ist mein Fall – ich komme mit!“

„Ich schließe mich, mit Erlaubniß der Damen, auch an,“ sagte Rüdiger hinzu.

Ueber des Amtsrichters Gesicht flog ein Zug boshafter Freude.

„Sehr schön!“ sagte er mit plötzlicher Liebenswürdigkeit, „wir gehen nur nach unserem Zimmer, um uns mit einigen Tüchern gegen die Abendkühle zu versehen – die Herren erwarten uns vielleicht an der nächsten Pferdebahn, und wir fahren dann alle zusammen nach dem Zoologischen Garten hinaus.“

Er zog seine Damen mit sich fort; statt sie aber nach ihrem Zimmer zu geleiten, lud er sie freundlich ein, ihm nur immer nachzukommen, und ging ihnen voran, die Hintertreppe des Hotels hinunter und durch einen zweiten Ausgang ins Freie.

„Aber Karl, was soll denn das?“ Hier finden uns ja die Herren nie wieder!“ rief Helene vorwurfsvoll.

„Das ist mir außerordentlich lieb,“ sagte Karl gemüthlich, „wir amüsieren uns jetzt auf eigene Hand, und der Doktor Rüdiger kann die Cour schneiden, wem er will – meinethalben dem Lebermann! Kommt, Kinder!“

Und ohne den langen Gesichtern seiner Damen irgend welche Beachtung zu schenken, zog Karl mit ihnen ab.

Die beiden Herren, die er in so hinterlistiger Weise verlassen hatte, standen indeß mit einiger Ungeduld an der Pferdebahnhaltestelle. Schon ein Wagen war vorbeigefahren und noch immer schienen die Erwarteten nicht mit ihren Toilettenvorbereitungen fertig zu sein. Endlich verlor Rüdiger die Geduld, ging nach dem Hotel zurück und erfuhr dort, daß die Herrschaften nicht auf ihrem Zimmer seien. So blieb denn nur der Gedanke, daß man sich verfehlt hätte, und Rüdiger mußte wohl oder übel zu Lebermann zurück und diesem die Nachricht bringen.

„Die letzte Gelegenheit, sich wieder zu finden, bleibt nun der Zoologische Garten,“ sagte er etwas verstimmt, „wir wollen doch da hinaus fahren!“

Und mit einigem Unwillen bestieg er mit dem Apotheker die Pferdebahn und hatte das Vergnügen, mit diesem im Zoologischen Garten von Käfig zu Käfig zu wandern und sich zwei Stunden lang die merkwürdigen Geschichten aller Menagerien erzählen zu lassen, die sein Begleiter je gesehen hatte, und deren Insassen er mit grauenhafter Ausführlichkeit mit den anwesenden Bestien verglich; als einzige Abwechslung ward etwa dreißigmal eingefügt: „Nein, aber wo Schwarzens bleiben, ist mir unerklärlich!“

So endete dieser Tag in Berlin für Rüdiger, der den Abend nichts mehr vornehmen mochte, sondern sich, durch Aerger und Langeweile abgespannt, einsam in eine Bierstube setzte und zornig alle Lobsprüche auf den Zufall widerrief, der ihm statt des reizendsten Mädchens einen entsetzlichen Apotheker an die Seite geführt hatte.

Amtsrichters waren indeß im Wintergarten des Centralhotels und unterhielten sich mehr oder weniger vortrefflich, obwohl Anna ein bedeutendes Herzweh bei der Erinnerung an ihren treulos verlassenen Helden nicht unterdrücken konnte.

Helene und Karl genossen aber den Abend voll und ganz; Karl sogar ruchlos erfreut und auch nicht von den leisesten Gewissensbissen angefochten, daß er Lebermann abgeschüttelt und jemand anderm aufgebürdet hatte! Mit befriedigtem Gefühl kehrte man spät ins Hotel zurück und gedachte den morgigen Sonntag für Potsdam zu verwenden.

Im Augenblick, als der Amtsrichter mit den Seinigen die Treppe hinaufstieg, um sich zur Ruhe zu begeben, erlebte er allerdings noch den Schmerz, sich überzeugen zu müssen, daß Lebermann sein Haus- und Flurgenosse geworden war, denn Lebermann steckte sein Haupt zur Thür heraus und rief ihm vorwurfsvoll zu: „Aber wo haben Sie denn gesteckt?“

„Wo anders!“ gab Karl kurz und vieldeutig zur Antwort und schlug die Thür seines Zimmers zu.

Von Rüdiger war nichts zu sehen und zu hören – er schlief wohl seinen Groll aus!

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.


Zwei deutsche Gelehrte †. Der grimme Meister Tod reißt schwere Lücken in die stolzen Reihen unserer deutschen Geistesstreiter. An einem Tage hat er zwei Opfer abgefordert, Gustav Rümelin und Richard Gosche.

Der Name Gustav Rümelins, in seiner engeren Heimath der ersten einer, ist zum letztenmal in weite Kreise unseres deutschen Volkes gedrungen im Zusammenhange mit einer Frage, die ja heute die Geister lebhaft beschäftigt, der Fremdwörterfrage. Er trat vor einigen Jahren mit einer Schrift hervor, in welcher er gegen die Uebertreibungen in der Verdeutschungssucht seine Stimme erhob und eine Reihe von Fremdwörtern als zulässig, ja unentbehrlich gegen die Bestrebungen der Sprachreiniger zu decken suchte. Es gab viele, die Rümelin diese Stellungnahme verargten, und doch ist gerade diese Schrift charakteristisch für die Eigenart des Mannes. Eine seltene Selbständigkeit des Denkens zeichnete ihn aus und es gab für ihn weder Mode noch Vorurtheil, weder den Strömungen der öffentlichen Meinung noch dem Glauben an große Namen gestattete er einen bestimmenden Einfluß auf Ziel und Richtung seines forschenden Verstandes. Diese Eigenschaft begründete seine Größe als Gelehrter, er verleugnete sie aber auch nicht als Politiker. Und selbständig wie in dem Gang seines Denkens war er auch in der Wahl der Gebiete, die er in den Kreis seiner wissenschaftlichen Betrachtung zog. Wenn man seine „Reden und Aufsätze“ durchblättert, so erstaunt man vielleicht weniger noch über die verschiedenartigen Wissenszweige, denen er den Stoff zu seinen Abhandlungen entnimmt, als über die Entdeckerkühnheit, mit der er ganz neue, von den gewohnten Pfaden der Wissenschaft kaum gestreifte Gefilde betritt, um goldene Schätze der Erkenntniß auf ihnen zu heben. So verliert an dem Manne, der nach kurzem Krankenlager am 28. Oktober zu Tübingen dahinschied, die Tübinger Hochschule einen geistreichen, tief wirkenden Lehrer, der württembergische Staat einen treuen, besonnenen, unerschrockenen Berather, Deutschland aber, ja die Menschheit eine Leuchte der Wissenschaft und einen vorbildlichen Charakter.

Gustav Rümelin ist am 26. März 1815 in Ravensburg geboren. Seine amtliche Laufbahn begann er als Lehrer an verschiedenen württembergischen Unterrichtsanstalten, sie führte ihn durch das Mittelglied des Oberstudienraths zu der wichtigsten staatsmännischen Stellung, die er im Laufe seines Lebens eingenommen hat: im Jahre 1856 wurde ihm die Leitung des Departements des Kirchen- und Schulwesens übertragen, die er fünf Jahre lang beibehielt, bis unheilbare Meinungsverschiedenheiten mit der Kammer der Abgeordneten ihn zum Rücktritt veranlaßten. Er trat dann an die Spitze des statistisch-topographischen Bureaus (des heutigen statistischen Landesamtes), habilitirte sich aber 1867 als Dozent für Statistik, Völkerkunde etc. an der Universität Tübingen. Das Jahr 1870 brachte ihm die Würde eines Kanzlers der Universität und als solcher wirkte er – unter gleichzeitiger Fortsetzung seiner Lehrthätigkeit bis zu seinem Tode.

In seiner Eigenschaft als Kanzler war er Mitglied der württembergischen Kammer der Abgeordneten, aber auch vorher hatte er mannigfache politische Vertrauensstellungen übertragen erhalten. Hervorgehoben sei nur, daß er im Jahre 1848 in die deutsche Nationalversammlung nach Frankfurt gewählt wurde; als einen der hervorragendsten Anhänger der erbkaiserlichen Partei sandte ihn das Frankfurter Parlament im Frühjahr 1849 mit jener bekannten Abordnung nach Berlin, die dem Könige Friedrich Wilhelm IV. von Preußen die deutsche Kaiserkrone anzubieten hatte. Mannigfache Ehrenerweisungen wurden ihm von seinem König wie von seiten der Universität zu theil, er bekleidete die Würde eines Geheimraths mit dem Titel Excellenz und vereinigte mehrere Doktorhüte auf seinem Haupte. Aber alle diese Ehrenzeichen erscheinen fast als etwas Unwesentliches neben dem Denkmal, das er sich selbst errichtet, – dem Andenken eines echten Mannes der Wahrheit.

Fast zu derselben Zeit wie Rümelin hat noch einen zweiten deutschen Gelehrten ein jähes Schicksal dahingerafft. Richard Gosche ist in der Nacht zum 29. Oktober zu Halle verschieden. Mit Rümelin hat er die Vielseitigkeit seines wissenschaftlichen Strebens gemein, orientalische, klassische und neuere Philologie hat er mit gleichem Eifer umfaßt und als Litteraturkenner und Litterarhistoriker sich einen glänzenden Namen gemacht. Er war am 4. Juni 1824 zu Neundorf bei Crossen a. d. O. geboren, wurde 1847 Bibliothekar an der königlichen Bibliothek in Berlin und habilitirte sich einige Jahre darauf an der dortigen Hochschule. Das Jahr 1863 führte ihn als ordentlichen Professor an die Universität Halle,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 803. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_803.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)