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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Ich bin gleich zu Ende,“ sagte Herr Lebermann, „ja – wo war ich doch stehen geblieben? Ich weiß schon! Also der Provisor! Auf gütliches Zusprechen hört er nicht, und zu sehr mag ich ihn auch nicht anfahren; er ist ein ordentlicher Mensch, und man kann sich heutzutage einen mit der Laterne suchen, auf den man sich so verlassen kann! Etwas Vermögen hat er auch –“

„Ja, aber Herr Lebermann,“ unterbrach Helene, die ihren Mann schon im Geist mit dem Messer auf den Erzähler losgehen sah, „Sie wollten ja erzählen, warum Sie nach Berlin gekommen sind!“

Herr Lebermann zerschnitt mit Behagen sein Beefsteak.

„Ich komme eben dazu,“ sagte er mit einer liebenswürdigen Verbeugung gegen die Frau Amtsrichter, „na – gestern ist die Thür wieder offen – ich, etwas erhitzt – ich hatte einen dickeren Ueberzieher an – war auch wohl etwas rascher gegangen als gewöhnlich – ich nehme es wenigstens an! – komme an die Apotheke – der Zug! Sie machen sich keinen Begriff – und in dem Augenblick – au – da fühle ich’s im Zahn! – Ich, ganz außer mir, gehe hinauf zu meiner Frau – es ist doch sehr angenehm, daß wir die Wohnung jetzt im selben Hause haben. – ‚Emma,‘ sag’ ich, ‚mein Zahn!‘ ‚Der plombirte?‘ schreit sie auf – ‚ja,‘ sag’ ich. – Sie kennen meine Emma, Frau Schwarz!“ – Helene neigte zustimmend den Kopf – sie fühlte, wie ihre Augenlider schwer wurden. Karl trommelte nervös und donnernd auf die Tischplatte, und Anna war die einzige, die sich nicht langweilte, da sie mit fieberhafter Erregung auf die Straße sah, ob sich der unbekannte Kurt nicht zeigen werde, und gar nicht auf den Sprecher hörte.

„Na,“ fuhr Lebermann fort, „meine Frau, herzhaft, wie sie ist, sagt: ‚Lebermann‘ – sie nennt mich jetzt immer Lebermann, seit unser Robert nicht mehr Dicker, sondern Robert genannt wird – Sie wissen ja, ich heiße auch Robert, und da gab es ewig Verwechselungen – Robert – Robert – ja, wer ist gemeint? Nun, um es kurz zu machen – sie sagt: ‚Lebermann, damit ist nicht zu spaßen – geh’ bald vor die rechte Schmiede!‘ Ich, kurz entschlossen, nehme mir ein Retourbillet – fahre her – heut morgen gleich zum Zahnarzt – und nun bin ich vogelfrei und muß Sie hier treffen! Das ist ja ein einziger Zufall – wirklich einzig!“

„Na ja,“ sagte Karl, der an der äußersten Grenze menschlichen Erduldens angelangt war, „und wir müssen weiter! Gesegnete Mahlzeit, Herr Lebermann!“

„Wo wohnen Sie denn?“ frug der Apotheker.

„Noch gar nicht,“ log Karl mit dreister Stirn, sein Gewissen damit beschwichtigend, daß man ja noch keine Nacht im Hotel gewesen war, „wir sind eben auf der Suche! Kellner – zahlen!“

„Und wo treffen wir uns zunächst wieder?“ frug der Nachbar weiter, der durchaus gewillt schien, sich als furchtbares Gespenst der Nacht an die Sohlen seiner Landsleute zu heften.

„Nun, weiter fehlte mir nichts – ich meine, ich habe noch keine bestimmten Pläne,“ sagte Karl und nahm seinen Hut vom Nagel, während die Damen, recht niedergeschlagen über die Entwickelung ihrer so glücklich begonnenen Reise, sich auch fertig machten. Anna konnte mit ihrem Mäntelchen nicht so ganz zurecht kommen, als plötzlich ein sehr verbindliches: „Erlauben Sie mir, gnädiges Fräulein,“ ihr ans Ohr schlug und der soeben auch in dieses Restaurant eingetretene Doktor Rüdiger mit seinem vergnügtesten Gesicht vor der Gruppe stand.

Des Amtsrichters Miene in diesem Augenblick konnte nur bedauern lassen, daß kein Augenblicksphotograph zur Stelle sei! Er sah den ungebetenen Helfer niederschmetternd an, gab seiner Frau den Arm, winkte Aennchen an seine Seite und verließ, ohne ein Wort zu sprechen, nach kurzem Abschiedsgruß an Lebermann das Lokal, während Rüdiger etwas verlegen zurückblieb, weil er sich ohne wirkliche Aufdringlichkeit doch nicht anschließen konnte.

Es war hart! Nach stundenlanger Jagd war es ihm endlich gelungen, das reizende Mädchen von heut früh wieder zu finden, und im selben Augenblick mußte sie ihm auch schon wieder einführt werden! Als einzigen Strohhalm der Rettung griff er nach Herrn Lebermann, der mit der Familie zusammen gesessen hatte, also doch entschieden Näheres über sie wissen mußte.

„Die Herrschaften hatten es sehr eilig,“ wandte er sich mit etwas erzwungener Heiterkeit an den Apotheker, der, erfreut, einen Ableiter für seine Unterhaltungsgabe zu haben, sofort seinen Stuhl rückte und dem neuen Ankömmling Platz am Tische machte.

„Ja, so ist mein guter Freund Schwarz,“ sagte er behäbig, „immer ein bißchen hitzig – ein bißchen ungestüm! Ich bin nun nicht so! Ich bin ruhiger, und da gleichen wir uns so hübsch aus! Meine Frau sagt manchmal: ‚Lebermann‘ – ich heiße nämlich Lebermann, Apotheker Lebermann aus Solau –“

„Doktor Rüdiger!“ erwiderte sein neuer Freund mit einer Verbeugung.

„Sehr angenehm! – Also meine Frau sagt immer: ‚Lebermann, Du bist nicht aus Deiner Ruhe zu bringen!‘ Und Sie kennen meinen Freund Schwarz also auch, Herr Doktor Rüdiger? Dr. juris? oder medicinae?“

„Das letztere, Herr Lebermann,“ erwiderte Rüdiger, dem mit Entsetzen klar wurde, an welch’ tödlich langweiligen Gesellen ihn der tückische Zufall geschmiedet habe.

„I sehen Sie mal – da sind wir ja beinah Kollegen!“ fuhr Herr Lebermann mit einem Tone freudigster Erregung fort, „Sie kennen den Amtsrichter schon länger?“

„Ich hatte heut morgen durch einen Zufall Gelegenheit, den Herrschaften den Weg nach ihrem Hotel zu weisen,“ sagte der junge Arzt und sah sich ungeduldig nach einer Gelegenheit zu entschlüpfen um.

„So? – Da fällt mir eben ein – ich habe Schwarz nicht recht verstanden, ob er schon ein Hotel gefunden hätte – welches war es denn?“ frug Herr Lebermann.

„Das R.-Hotel,“ erwiderte der ahnungslose Rüdiger, der damit allerdings der Familie, der er sich so gern angenehm gemacht hätte, den denkbar teuflischsten Dienst erwies.

„Ach, das ist mir sehr lieb – da werde ich mich auch einquartieren,“ sagte Lebermann erfreut, „da hat er gleich einen Anschluß! Sind Sie nur vorübergehend in Berlin, Herr Doktor? Ich nur auf zwei Tage – denken Sie mal!“

„Jawohl,“ sagte Rüdiger und stand auf, „und soeben fällt mir ein, daß ich weiter muß – ich habe eine Verabredung – ich empfehle mich, Herr Lebermann!“

Er stürzte eilig davon und ließ den armen Lebermann abermals in seiner Einsamkeit zurück, der aber nun doch wenigstens wußte, wo er Amtsrichters wieder finden werde, und sich, wie wir gesehen haben, auch sofort entschloß, im R.-Hotel einzukehren.

Der Amtsrichter und seine Damen hatten indeß ziemlich verstimmt ihre Wanderung wieder angetreten. Die Thatsache, daß die Welt rund ist, war ihnen noch nie ärgerlicher entgegengetreten als hier, wo ihnen vermittelst dieser verhängnißvollen Rundheit Herr Lebermann so unerwartet entgegengerollt kam.

„Bei unserem Pech,“ bemerkte der Amtsrichter bitter, „wird uns wohl der Kerl überall in den Weg laufen – nach dieser Erfahrung bin ich überzeugt, ich könnte auf den Vesuv steigen, um dem Menschen zu entgehen, und wenn ich oben angelangt wäre, würde der Vesuv den Lebermann ausspeien. – Na, wo sind wir denn hier wieder?“ setzte er mißvergnügt hinzu, „ewig verläuft man sich in diesem Berlin! Darin ist mir Solau wirklich beinah noch lieber!“

Er verschwand wieder hinter seinem großen Plan und suchte mit gespanntester Aufmerksamkeit nach seinem Hotel, oder besser, nach der Straße, wo dieses gelegen war.

Ein kleiner Straßenjunge mit einem frechen, pfiffigen Gesicht kam in diesem Augenblick singend und tänzelnd den Weg entlang. Beim Anblick der planstudierenden Familie flog ein Zug seliger Freude über sein Gesicht, und mit dem Ausruf: „Dahinter wohnt wohl jemand?“ fuhr er mit ausgestrecktem Zeigefinger mitten durch den Plan; dann ergriff er unter einem wahrhaft kreischenden Gelächter die Flucht, ehe der Amtsrichter sich so weit von seiner Erstarrung erholt hatte, um ihm mit einiger Aussicht auf Erfolg nachjagen zu können.

Helene und Anna sahen mit größter Besorgniß auf ihren Beschützer, in der bangen Erwartung, er würde vor Aerger außer sich gerathen – aber das Gegentheil begab sich! Herr Schwarz, der seine Blicke noch immer auf den beschädigten Plan gerichtet hatte, sah merkwürdigerweise ganz befriedigt aus und sagte mit einem tiefen Athemzug: „Na, das ist mir sehr lieb – der Junge hat gerade an der Stelle ein Loch in den Plan gebohrt, die ich immer so mühsam suchen mußte – das erleichtert die Sache bedeutend.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 800. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_800.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)