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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Die Pauline nickte gedemüthigt und trollte sich, während der Amtsrichter aufstand und sich die kleine Ledertasche für Geld und Billette umhing, seine Damen auch zur Eile antreibend:

„Macht Euch fertig, Kinder – ich glaube, da kommt schon der Wagen!“

Droschken gab es nicht; ein Lohnkutscher stellte zu den äußerst seltenen Gelegenheiten, wo man in Solau nicht zu Fuß ging, – also meist nur zu Taufen, Hochzeiten und Begräbnissen – seinen Zweispänner. Dieser war auch für heute abend gewonnen, um Amtsrichters zur Bahn – und auf dem Rückweg die wichtige Neuigkeit von ihrer Reise durch die ganze Stadt zu bringen, die man zu abseitiger Freude mit ihrem Geklatsch und vor allem mit Lebermann auf ein paar Tage hinter sich lassen wollte.

Als die Amtsrichtersfamilie auf dem Bahnhof ankam, erlitt ihre frohe Laune noch eine kleine Trübung, indem Pauline mit dem Pelz nicht zu erblicken war. Vergeblich spähte alles durch das Dunkel der Nacht, und schon hatte man, in sein Schicksal ergeben, die Plätze im Wagen eingenommen, als die Erwartete wie Schillers Taucher athemlos herbeistürzte, „und hoch in ihrer Linken schwang sie den Pelz mit freudigem Winken!“ Der Amtsrichter schlüpfte eilig in die wärmende Hülle, und es war auch die höchste Zeit, denn schon wurden die Wagenthüren zugeschlagen – ein gellender Pfiff – und der Zug setzte sich in Bewegung.

Unsere drei Reisenden waren in rosigster Stimmung. Helene, die seit ihrer Verheirathung keinen Fuß aus der Provinz gesetzt hatte, malte sich die Herrlichkeiten Berlins in den buntesten Farben aus, und Aennchen träumte unbestimmte, goldene Träume und baute die glänzendsten Luftschlösser, in denen der unbekannte Kurt immer im entscheidenden Augenblick aus irgend einem Fenster sah.

Der Amtsrichter rieb sich vergnügt die Hände.

„Na – endlich einmal aus unserem elenden Nest heraus,“ sagte er und lehnte sich behaglich in die Ecke zurück, „nun wollen wir alle hübsch schlafen und erst morgen früh in Berlin die Augen wieder aufthun!“

Die Nachtfahrt ging ohne Störung vorüber, und erst kurz vor Berlin erwachte man allerseits und fuhr mit dem gehobenen Bewußtsein, sich in der Reichshauptstadt zu befinden, in den Bahnhof Friedrichstraße ein.

Der Amtsrichter steckte sein etwas verschlafenes Haupt zum Wagenfenster hinaus.

„Da seht einmal dies Gewimmel und Getreibe,“ sagte er fröhlich, „hier ist es freilich anders wie bei uns in Solau! Hier verschwindet der einzelne wie ein Tropfen im Meer, und keiner kümmert sich um das, was der andere thut und treibt. Nun steigt aus, Kinder!“

Er dehnte sich behaglich und nahm die Handkoffer aus dem Wagennetz, um sie seinen Damen zuzureichen, denen er sogleich auf dem Fuß folgte.

„Seht Ihr, hier kennt einen nun kein Mensch,“ begann er dann von neuem, „wir können die drei Tage thun und treiben, was wir wollen – man ist wie auf einem großen Maskenball!“

„Guten Morgen, Herr Amtsrichter!“ tönte in dem Augenblicke eine Stimme hinter ihm, „darf ich eine Droschke besorgen?“

Der Angeredete fuhr erschreckt zusammen. Ein ihm und seinen Damen gänzlich unbekannter Kofferträger stand vor ihm und griff mit einem sehr verschmitzten Gesicht eben nach den Gepäckstücken, mit denen er sich mit lastthierartiger Geschicklichkeit belud.

„Woher kennen Sie mich denn?“ frug der Amtsrichter etwas gereizt über diesen sofortigen Angriff auf sein Inkognito.

Der unbekannte Freund hatte aber bereits den Weg nach der Droschke angetreten und schaffte die Koffer auf deren Verdeck.

Ein herrlicher Herbstmorgen lag dämmernd über der Stadt, die in ihrer vornehmen Großartigkeit unseren Kleinstädtern verlockend winkte.

„Weißt Du, Karl,“ begann Helene, die sich mit Aennchen inzwischen über ihre gemeinsamen Absichten und Wünsche verständigt hatte, „wie wäre es denn, wenn wir zu Fuß nach dem Hotel gingen? Da wir nur so kurze Zeit hier sind, müßten wir doch jeden Augenblick auskosten, und ich glaube, nach der durchreisten Nacht wird uns ein Spaziergang sehr viel erfrischender sein als die Droschkenfahrt!“

„Ach ja!“ stimmte Aennchen ein, deren strahlende Augen die neue Wunderwelt betrachteten wie ein Kind das Märchenland.

„Nun, immer zu!“ versetzte der Amtsrichter, den die Luft der Residenz mit einem Schlage in einen jovialen Lebemann umgewandelt hatte, „ich hole nur einen Plan von Berlin und bin gleich wieder bei Euch!“

Er bezahlte die Droschke, während die Damen langsam voranschritten, und gab noch ein Trinkgeld, um sicher zu sein, daß der Rosselenker auch die Koffer richtig am Hotel abliefern würde. Als er sich nach dem Bahnhof zurückwandte, wo er den Plan zu erstehen beabsichtigte, rief ihm der Droschkenkutscher nach:

„Danke bestens, Herr Amtsrichter!“

Der brave Mann stutzte nun doch – er warf einen mißtrauischen Blick zurück, – da stand noch immer der Kofferträger neben der Droschke, und beide Männer grinsten teuflisch.

„Aha!“ dachte unser Amtsrichter, „der Kerl hat vorhin gemerkt, daß er mich mit seiner dummen Anrede geärgert hat, und nun utzen sie mich hier in Kompagnie. Das ist so Berliner Humor – das muß man sich hier gefallen lassen!“

Mit einem Plan von Berlin bewaffnet, der ungefähr so groß war wie ein mäßiger Bettschirm, eilte der Amtsrichter seinen Damen nach, die an jedem Laden in der Friedrichstraße so sicher hängen blieben wie die Fliegen an der Leimruthe.

Ein schönes Schaufenster mit Gegenständen aus cuivre poli fesselte unsere Gesellschaft eben und der Amtsrichter sagte behaglich:

„Nun, labt Euch nur hier! Wo man so unbekannt ist, kann man ruhig an den Schaufenstern stehen bleiben!“

Er vertiefte sich seinerseits auch in die Betrachtung der Herrlichkeiken.

„Na, Herr Schwarz, das gefällt Ihnen wohl?“ rief da eine krähende Stimme, und ein Schusterjunge mit einem schelmischen Spitzbubengesicht huschte lachend an ihm vorüber.

Der Amtsrichter stand sprachlos.

„Nein, nun wird mir’s zu toll!“ rief er aus, „das geht nicht mit rechten Dingen zu! Kommt, Kinder, die Sache ist entschieden unheimlich! Das ist gewiß so eine Bauernfängergeschichte – machen wir, daß wir ins Hotel kommen! Redet mich aber noch einmal einer Herr Amtsrichter oder Herr Schwarz an, der soll’s kriegen!“

Die Schwestern waren auch schon ganz ängstlich geworden.

„Ja, ja,“ stimmte Helene bei, „gehen wir rasch nach dem Hotel – das ist ja ungemüthlich hier in Berlin! Ich begreife gar nicht, Karl,“ setzte sie hinzu, „Du mußt doch irgend einer stadtbekannten Persönlichkeit hier fabelhaft ähnlich sehen, die auch Schwarz heißt!“

„Und auch Amtsrichter ist?“ frug Karl höhnisch, „recht wahrscheinlich, mein Kind! Aber ich sage es ja, man muß nur einmal vergnügt sein wollen, gleich fängt der Aerger an!“

Sie waren im eifrigen Verhandeln über die mögliche Ursache des ungewöhnlichen Ereignisses weitergegangen und bemerkten plötzlich, daß sie die Richtung verloren hatten.

„Wo sind wir denn eigentlich?“ fragte Aennchen mit zitternder Stimme, „ich dachte, wir sollten hier unter die Linden kommen?“

„Eben, Karl,“ stimmte Helene bei, „Du führst uns ja immer weiter! Hier ist es schon gar nicht mehr hübsch, und ich bin auch todmüde!“

Karl zog seinen riesigen Plan hervor.

„Wartet einmal,“ sagte er würdevoll, „wir werden es gleich haben!“

Und er entfaltete das ungeheure Blatt. Ein tückischer Morgenwind aber zauste dasselbe unbarmherzig hin und her, und es blieb den Damen nichts anderes übrig, als sich wie Bannerträger rechts und links von dem Amtsrichter aufzupflanzen und den Plan zu halten. So schnell gelang es nun aber Karl nicht, sich zurechtzufinden, und während er noch suchte, kam ein großer feingekleideter Mann die Straße herunter und betrachtete mit unverhohlener Belustigung die auffallende Gruppe, Aennchens reizende Erscheinung dabei besonderer Beachtung würdigend. Das Gesicht des Fremden trug einen heiteren, fast übermüthigen Ausdruck und sah dabei so hübsch und angenehm aus, daß gar kein Grund vorhanden schien, warum Aennchen, die eben die Augen erhob, plötzlich bis in die Stirn erröthete und mit vor Schreck zitternder Hand kaum den Plan festzuhalten vermochte, auf dem Karl und Helene noch immer vierhändig und wehklagend nach ihrem Hotel suchten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 786. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_786.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)