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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

dem Leben der tirolischen Notburga den Forscher an uraltes Heidenthum erinnern und an die dunkle Göttin, deren Schatten noch über die Felszinnen des Sonnwendjochs und über die stillen Wasser des Irdeiner Sees hingeistert.

Wir sind von Pertisau zu Fuße nach Eben gewandert, in der Hoffnung, die Wallfahrtskirche beschauen zu können. Es ist ein strahlender heißer Sonntagmorgen. Blendendweiß steht die Kirche da, gefüllt mit Andächtigen; aus dem Portale hört man jedes Wort des Predigers. Wir mögen das Landvolk in seiner Andacht nicht stören; darum verzichten wir auf den Eintritt. Seltsam aber wird unsere Aufmerksamkeit erregt durch eine einsame Mädchengestalt in Landestracht, die außen am Portale lehnt, in Gebet versunken, mit staubigen Schuhen. Unter dem großen Hute hervor schaut ein müdes trauriges Gesichtchen, das in Kummer und Reue die Welt anzuklagen scheint.

Ergriffen wenden wir uns seitab nach den Bänken einer kleinen Weinschänke, die unter wohligem Schatten nahe bei der Wallfahrtskirche stehen. Und wie wir die Kellnerin fragen, warum wohl jene blasse Wallfahrerin nicht in die Kirche eintrete, sondern draußen bete, meint sie nach einem flüchtigen Blick hinüber: „’s wird wohl was verschuld’t haben, das arme Ding, daß es sich nit einitraut!“

Ein Rauchwölkchen, vom Achensee her gleitend, mahnt uns an den Aufbruch zur Bahn. In Eben beginnt der Eisenweg jäh nach dem Innthale sich zu senken; hier reichen die gewöhnlichen Schienen nicht mehr aus; auf gezahnter Stahlstange klettert die Lokomotive, mit einem Zackenrade in ihren Weg sich einklammernd, in die Tiefe. Noch einen Blick zurück nach dem Spiegel des Achensees und nach der einsamen Beterin an der Wallfahrtskirche – dann hat uns der Wagen aufgenommen. An den Häusern von Fischl geht’s vorüber, wo sich der Blick nach der weiten schimmernden Tiefe des Innthals aufthut, nach dem blauduftigen Zacken des Kaisergebirgs im fernen Nordosten, und nach den silberglänzenden Schneegipfeln des Zillerthals im Süden. Gerade unter dem Schienenwege wird das schimmernde Band des Innstroms sichtbar mit den alten Ritterburgen, welche dem Eingang des Zillerthals umlagern. Ueber dem Thurm und den Dächern von Jenbach aber erschließt sich nun auch der westliche Theil der Landschaft: das stolze Schloß Tratzberg, das einst so silberreiche Bergwerkstädtchen Schwaz und weit im Südwesten, wie ein leuchtendes Märchen über dem Thalschlusse hängend, die Gletscher der Stubayer Alpen. Und während das Auge trunken in dieser Landschaft schwelgt, klettert unermüdlich das eiserne Zackenrad in seiner hastigen Arbeit an der Station Burgeck vorüber und an dem ansehnlichen und rührigen Dorfe Jenbach, um unmittelbar neben der Station der Innthalbahn anzuhalten. Und nun pfeifen die Lotomotiven wieder, lange Wagenzüge rollen heran; internationales Reisetreiben umschwirrt uns. Wir sind wieder auf der Weltverkehrsstraße, die uns entweder nach Norden hinausführt ins bayerische Flachland oder südwärts und westwärts, wo der Sonnenstrahl auf ewigen Schneefeldern liegt.




Unter dem Glockenstuhl.

Novelle von Gerhard Walter.
(Schluß.)


Gertrud und ich waren allein. Sie holte schwer Athem. Ich war wie gebannt. Ich wußte, was jetzt kam.

„Lassen wir den Schleier fallen!“ begann sie mit leisem Ton; „es ist mein heißester Wunsch gewesen, daß diese Stunde kommen möchte in meinem Leben. Ich konnte mit der ungesühnten, unverziehenen Schuld gegen Sie nicht leben und hätte nicht sterben können.“

Sie hielt inne. „Tick – tack, tick – tack“, ging langsam die große Wanduhr.

„Ich habe furchtbare Zeiten der Herzensqual durchgemacht,“ fuhr sie fort, „und ich begreife es noch nicht, daß ich das alles überlebt habe. Ich brauche auf alles nicht einzugehen, nur eins muß ich erwähnen, daß Sternhagen schon an dem Nachmittage, an dem Sie hier im Garten die Giftpflanze zeichneten, um mich angehalten hat.“

Ich fuhr auf.

„Ruhig!“ bat sie, ohne Blick und Haltung zu ändern; „hören Sie mich still an, lieber Freund!“

Ich stützte den Kopf in die Hand und sah in den Champagnerkelch hinein, wie da die Schaumperlchen, eines nach dem andern, sich ablösten und dann schnell nach oben stiegen.

„Sie sollen alles wissen. Die Stunde, die uns jetzt geboten ist, kommt nie wieder, und sie muß über zwei Menschenleben beruhigendes Licht breiten. Mir soll sie etwas Frieden bringen, und Ihnen, daß Sie mich nicht hassen und nicht – lieben! Beides ist mir zu schwer!“

Sie senkte das Haupt, aber bald hob sie es entschlossen wieder, und fortan sah sie mich an und ich sie. So, Blick in Blick gesenkt, saßen wir, nur durch das Tischchen getrennt, uns gegenüber. Schaurig süße Stunde! Draußen war’s Nacht, dunkle, tiefe, einsame Herbstnacht.

„Wir gingen auseinander damals unterm Glockenstuhl,“ fuhr sie fort, „und meine Hoffnung – waren Sie! Sie sollen’s, Sie müssen’s mir glauben“ – ihre Stimme nahm tieferen Klang an – „ich habe Sie aus allen Kräften meiner jungen leidenschaftlichen Seele geliebt! – Glauben Sie das?“ fragte sie wie in großer Herzensangst und neigte sich ein wenig vor.

Ich nickte. Ich konnte nichts sagen.

„Und Sie fragen, wie ein Mädchen, deren Herz und Leben so gefangen ist, dem Manne, den sie liebt, untreu werden kann; ohne ein Wort des Abschieds sich von ihm abwenden und zu einem anderen Ja sagen kann, ohne vor Scham und Schande und unendlichem Herzensjammer vor dem Altar zusammenzubrechen? Wie aber, wenn dies Mädchen Mächten unterthan ist, denen sie willenlos gehorchen muß, wenn sie über Scham und Schande und Jammer den Mantel breiten kann, daß sie einem Gottesgebot gehorcht hat, gehorchen mußte, ob sie dabei auch hätte aufkreischen und aufschreien mögen, wie die gefolterten Weiber, wenn ihnen die Gelenke zerbrochen wurden?

Sie wissen, wie es bei mir zu Hause stand. Mein Vater in hochgradiger Weise nervenkrank – er wurde später vollständig irr, an Größenwahn, ein halbes Jahr, ehe er starb – und die Verhältnisse so trostlos, daß der Zusammenbruch unvermeidlich schien! Ich war in den Osterferien zu Hause. Da wurde in all den Jammer hinein eine Hypothek auf unser Häuschen gekündigt: der Ruin war gekommen! Da, an demselben Tage, an dem die Forderung fällig war, kam ein Brief von Sternhagen an meinen Vater, – wie manchen von demselben Absender an mich gerichteten Brief hatte ich von Wulfshagen aus zurückgeschickt! – Und jetzt kam freudestrahlend, zitternd vor Glück der Vater auf meine Stube gestürzt, und die Mutter weinend hinterher. ‚Rettung, Rettung!‘ schrie der alte Mann; ‚Mädchen, Du bist uns zum Segen ins Haus geboren; hier, lies!‘ Ich gab ihm den Brief zurück, bebenden Herzens. ‚Ich kann nicht, will nicht!‘ rief ich, ‚ich bin verlobt!‘“

Ihre Wangen glühten, ihre Hand legte sich auf meine – ihr Gesicht war nah vor meinen Augen.

„Da,“ sprach sie weiter, und es lief ein fröstelndes Zittern durch ihre Hand, „da lag der alte Mann vor mir auf den Knieen und weinte wie ein Kind. ‚Gertrud, Gertrud, rette mich! Um Gottes Barmherzigkeit willen – er ist reich, sehr reich – er kann, er wird uns alle, alle aus der schrecklichen Noth erlösen! Soll ich betteln gehen mit grauen Haaren?‘ Und dahinter stand die Mutter, die gerungenen Hände zu mir aufgehoben, mit ihrem thränenüberströmten abgehärmten Gesicht. Und der Vater umfaßte meine Kniee. ‚Gertrud,‘ rief er, ‚Du bist nicht verlobt, ich habe meine Einwilligung nicht gegeben, zum Glück nicht gegeben; Du bist frei! Oder willst Du über die Leiber von Vater und Mutter weg in Dein neues Haus einziehen – dann thu’s –!‘ Er schluchzte – Konrad, sag mir, verdammst Du mich, daß ich ihn aufhob und ihn küßte und ihn rettete vom Untergang?“

Ich hatte meine andere Hand über die ihre gelegt. Auge brannte in Auge.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 767. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_767.jpg&oldid=- (Version vom 30.3.2020)