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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Tegernsee und Achensee sein mag, zu solch’ internationaler Bedeutung konnte die Straße sich doch nie aufschwingen wie die Straßenzüge von Mittenwald oder über den Fernpaß nach Tirol. Dafür haben die Anwohner des Achensees, im Gegensatze zu denen anderer Bergwasser, frühzeitig gelernt, sich der Segel bei ihrer Schiffahrt zu bedienen; und schon vor Jahrzehnten, als es noch keine Eisenbahnen in Tirol und kein Dampfboot auf dem Achensee gab, konnte der Bergwanderer, der zu Fuße – denn einen Omnibus kannte man damals noch nicht an diesen Ufern – daherkam, von einem frischen Tirolermädchen in einem schaukelnden Segelboot über den See hin gesteuert werden. Keine Bequemlichkeit der Gegenwart, kein Dampfer und keine Zahnradbahn vermögen die poetische Einsamkeit und Stille zu ersetzen, in welchen der See und seine Ufer damals lagen.

Heute ist der Achensee vollständig zum internationalen Touristenschaustück geworden. Der Vergnügungsreisende, der das Innthal auf Dampfesflügeln durcheilt, nimmt ihn mit, was ihn nur einen Abstecher von etwa drittehalb Stunden kostet. Dann kann man mit dem nächsten Zuge wieder weiter eilen. Moderner Unternehmungsgeist hat natürlich nicht nur die Verkehrsmittel verbessert, sondern auch die Wirthshäuser um den See herum vermehrt und umgestaltet. Wer vor einem Vierteljahrhundert zu Fuß daher gepilgert kam, pflegte zumeist bei der preiswürdigen „Scholastika“ Einkehr zu halten, am nördlichen Ende des Sees. Die Scholastika – „Laschtika“ heißen sie die Achenthaler Bauern – ist eine blühende Gastwirtschaft. Am Anfange des Jahrhunderts war sie Eigenthum des im tiroler Freiheitskampfe berühmt gewordenen Anton Aschbacher. Von ihm übernahm das Anwesen seine Nichte Scholastika, die dem Hause den Namen gab und bis an ihr Ende im Jahre 1881 (vergl. „Gartenlaube“ 1881, Nr. 6) in ganz Tirol als wackere Herbergsmutter hochgeschätzt war. Wenn nun auch das Haus dem Zeitgeiste entsprechend sich erweitert und verschönert hat, so sind doch die Nachfolgerinnen der ersten Scholastika den alten guten tiroler Ueberlieferungen treu geblieben, thun kein Wasser in den Wein und schreiben den Gästen nicht mehr auf, als recht und billig ist.

Erster Aufstieg der Achenseebahn.

Etwas südlicher, auch an der Straße, auf einem Fleckchen grünen Landes, das durch die Bergwasser hier angeschwemmt ward, liegt wieder eine Ansiedelung: schmucke Holzbauten mit zierlich geschnitzten Altanen und Veranden, laubumrankt. Das ist der schnell berühmt gewordene „Seehof“. Ihn hat die aus dem Zillerthale stammende Volkssängerfamilie Rainer sich ersungen und erjodelt während der Sängerfahrten, welche sie viele Jahre lang in die Städte Deutschlands und Oesterreichs unternahm. Der Seehof ist ein Hotel für jene Reisenden, welche lieber fahren als zu Fuße gehen, mit dem Trinkgelde nicht knausern und reichbesetzte Tafeln mit mannigfachen Weinkarten höher schätzen als ländliche Stille und Einsamkeit. Aber auch für anderweitige Genüsse hat die unternehmungslustige Sängerfamilie gesorgt, denn in dem zum Seehof gehörigen Kaffeehause, das in den See hinausgebaut ist, geht’s an Sommerabenden lustig zu; die Sängerfamilie hat trotz ihres Hotelbesitzes das Singen nicht verlernt, da wird gesungen und gejodelt, Zither gespielt und getanzt. Und die nordländischen Reisenden, welche dabei sitzen, sind entzückt über dieses „tiroler Volksthum“, welches die schlauen Sänger ihnen so nett und so gemüthlich zubereitet haben, und singen nach Möglichkeit mit: „Duliäh, Duliäh!“

Ernsthafter, aber landschaftlich weit schöner ist’s in der Pertisau. Das ist ein breiter, goldgrüner Grasfleck, eigentlich ein großer Schuttkegel, den die wilden Bergwasser des Karwendelgebirgs am südwestlichen Seeufer zwischen die Bergriesen eingeschwemmt haben. Auf diesem Grasboden steht eine Ortschaft, welche fast nur aus Wirthshäusern besteht. Nackt und grausig schauen einzelne Hochgipfel des Karwendelgebirges auf das paradiesische Fleckchen herab. Hier, am Ufer der Pertisau, ist der See unvergleichlich schön; an Sommerabenden versprüht die Natur hier einen Farbenzauber, als sei das ganze Landschaftsbild aus buntschillernden Edelsteinen zusammengesetzt. Der türkisblaue See, in welchem die Lichtreize der Oberwelt sich zauberhaft spiegeln, die rothglühenden Schrofen des Sonnwendjochs, das so nahe gegenüberliegt, als wollte es wie ein riesiges Dach sich auf den See niedersenken; die schwarzgrünen Wälder an den Berghängen; die von duftigem Violett überflogenen, an den Kanten goldig gesäumten Kalkspitzen des Karwendelgebirges, die aus dem Falzthurnthal herüberwinken – all das zusammen giebt eine fast berauschende Harmonie von landschaftlichen Eindrücken.

Die Pertisau muß eine uralte Ansiedelung sein. Wenige Plätze im ganzen Hochgebirge konnten den kühnen Siedlern, welche zuerst an die Seitenthäler des Innthals eindrangen, um sich Wohnstätten aufzusuchen, einladender erscheinen als dieser felsummauerte und fluthumrauschte Erdenwinkel. Auch der Name, so seltsam klingend, muthet uns tausendjährig an – ist’s doch die alte Heidengöttin Perchta, auf welche die „Perchtens-Aue“ zurückgeführt wird.

Das Heidenthum ist freilich frühzeitig verschwunden. Denn schon im 12. Jahrhundert schenkten die zu Schlitters im Zillerthal seßhaften Herren Dietrich und Gerwin, denen dazumal die Landschaft gehörte, den ganzen Achensee sammt der Pertisau an das Benediktinerstift zu Sankt Georgenberg. Die Mönche von Sankt Georgen zogen sich aus der mühseligen und einsamen Bergeshöhe, in welcher ihr Klösterlein lag, später herab nach dem im Innthale unweit Jenbach sichtbaren Kloster Fiecht; und diesem gehört der Achensee und das Besitzthum zu Pertisau noch jetzt. Außer den Mönchen von Fiecht, welche hier in der Sommerfrische sich beschaulichem Treiben hingaben, wußten aber auch weltliche Fürsten die unvergleichliche Schönheit des Ortes und die wildreichen Jagdgründe der Umgebung zu schätzen. Erzherzog Sigismund ließ im 15. Jahrhundert ein hölzernes Jagdschlößchen hier erbauen, und sein Nachfolger in Tirol, der ritterliche Kaiser Maximilian, pflegte des Weidwerks am liebsten in der schönen Bergeinsamkeit zwischen dem Achensee und der Martinswand.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 765. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_765.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)