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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

No. 45.   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


Sakuntala.

Novelle von Reinhold Ortmann.

(Fortsetzung.)


Was Du da sagst, Rita, sind Räthsel, die ich nicht verstehe und die zu lösen ich nicht in der Stimmung bin,“ sagte Gerhard. „Was in aller Welt konnte Dich auf den Gedanken bringen, daß ich Deiner überdrüssig sei?“

„Glaubst Du etwa, mitten in Berlin auf einer wüsten Insel zu leben, mein Freund? Wenn Du in der That nicht willst, daß man etwas von Deinen zarten Verhältnissen mit kleinen Stickerinnen erfahre, so solltest Du etwas vorsichtiger zu Werke gehen. Es sind immer gute Freunde da, denen es Vergnügen macht, ihre Wahrnehmungen an die große Glocke zu hängen.“

Eine Zorneswelle röthete Gerhards Stirn.

„Darum also! – Eine lächerliche Eifersüchtelei – nichts weiter! – Und wenn ich Dir nun sage, Rita –“

Mit einer abwehrenden Handbewegung fiel ihm die Sängerin ins Wort: „Sage mir nichts – ich bitte Dich darum! Ich kenne die Entschuldigungen, die Ihr in solchen Fällen immer in Bereitschaft habt! Und ich bedaure diesmal nur die Verirrung Deines Geschmacks.“

„Willst Du nicht wenigstens die Güte haben, mir mitzutheilen, wen Du mit dieser kleinen Stickerin meinst, Rita?“

„Nun, ich habe mich nicht so genau nach ihren Verhältnissen erkundigt. Wenn ich nicht irre, war davon die Rede, daß sie die Tochter eines Musiklehrers sei.“

Gerhard trat näher an sie heran und sagte, während eine merkliche Erregung in seiner Stimme zitterte: „So höre denn, Rita, daß ich Dir ein für allemal verbiete, in einem spöttischen oder wegwerfenden Tone von diesem Mädchen zu sprechen. Sie ist die Tochter des Mannes, dem ich meine Erziehung und meine Ausbildung verdanke, und sie hat jetzt, nachdem ihr Vater gestorben ist, keinen anderen Schutz und Beistand als mich. Ich stehe ihr wie ein Bruder gegenüber, und ich werde nicht dulden, daß man sie verdächtigt und beschimpft!“

Die Sängerin schaute ihm einige Sekunden lang ernsthaft ins Gesicht; dann brach sie in ein helles Lachen aus, in ein Lachen von wahrhaft bezauberndem Klange.

„Wie köstlich ist diese Herzenseinfalt, mein Freund! Du bist der einzige Schutz und Beistand eines hilflosen jungen Mädchens, das, wie man sagt, sehr hübsch ist, und Du verlangst, daß die Welt dabei an ein ganz unverfängliches, brüderliches Verhältniß glaube? Du wirst sehr viel zu thun haben, wenn Du jeden einzelnen zur Rechenschaft ziehen willst, der sich erlaubt, daran zu zweifeln.“

„Wenn die Welt erbärmlich genug ist, solche Verhältnisse nicht zu begreifen, so erwarte ich es doch von Dir, Rita; denn ich hoffte, Astrid wird eine Freundin in Dir gewinnen.“

„Eine Freundin – in mir?“

Das schöne Weib richtete sich ein wenig aus seiner liegenden Haltung auf, und das Erstaunen, das sich jetzt in ihren Mienen spiegelte, war sicherlich ein vollkommen ungekünsteltes.

Siegfried-Statue von Aloys Löher.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 757. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_757.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)