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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Erhard – „und nehmen Sie einmal vorlieb in meiner zeitweiligen Scheunenwohnung.“

„O ja, ich möchte das Pflanzenungeheuer wohl ’mal sehen!“ sagte Frau Hedwig, offenbar von der Einladung keineswegs unangenehm berührt; „nicht wahr, Fräulein Zorn?“

Ich hielt meinen Kaffeelöffel aufrecht; das hieß bei uns „ja“. Ließen wir etwas auf dem Finger balanciren, dann bedeutete es „nein“. So wurde denn also durch Veranlassung des Giftsumachs für Sonntag nachmittag eine Fahrt nach Finkenfelde verabredet.

Es war ein herrlicher Tag, als wir hinüberfuhren. Die Lerchen hielten Massenübungen ab oben in der blauen Höhe, Licht und Glanz überall – und mir gegenüber saß Gertrud. Ich wollte, wir wären so weiter gefahren, immer zu, immer die Straßen der Welt entlang. Wenn mir an dem Tage einer gesagt hätte: „Es ist ein Unglück, geboren zu sein!“ – ich hätte mit ihm gerauft und über dem Geworfenen hingerufen: „Es ist ein herrlich, köstlich Ding, das Leben!“

Wir fanden ihn, den Giftsumach; er wuchs noch aus rankender Wurzel in einer Ecke des Gartens und mein fröhlich Herz klopfte vor Freude, als ich vor ihm stand. Nur wer das Entzücken des Forschers kennt, der ans Ziel gekommen ist, begreift es, daß ich mich nicht trennen konnte von dem fremdartigen, seltenen, furchtbaren Gaste; daß ich mir ruhig das gutmüthige Lachen der andern gefallen ließ, als sie gingen und ich allein zurückblieb bei der schönen Pflanze, um sie vorsichtig, aber mit innigem Behagen zu untersuchen und zu zeichnen. Leicht, ganz leicht hatte Gertruds Finger mich gestreift, als sie sich zu den andern wandte; zum erstenmal hing mein Blick nicht an ihrer schlanken Gestalt, wie sie davonging, sondern wie gebannt an der tückischen Giftpflanze allein.

Plötzlich – ich weiß nicht, wie lange Zeit schon vergangen – als ich mitten im Zeichnen war, fühlte ich mich von hinten umschlungen und meinen Kopf zurückgebogen; mit gerötheten Wangen stand das schöne Mädchen hinter mir und in ihren Augen blitzte es wie heiße schöne Leidenschaft – hastig warf sie die Arme um mich, stumm und hastig küßte sie mich – und wie ein gescheuchtes Reh eilte sie davon, den dunklen Lindengang hinab.

Was war das? Und hatte in ihren blauen Augen nicht gar etwas gefunkelt, was einer Thräne glich? Woher kam die Thräne? Was sollte sie? So dachte ich und griff wieder zum Stift und hörte nichts und sah nichts – als die Lebenzerstörerin vor mir, hier auf dem Grund und Boden des Mannes, den ich nicht leiden mochte, vor dem ich einen mir selbst unbegreiflichen Widerwillen hatte.

Da schrak ich auf. „Herr Doktor!“ schallte es vom Hause her, „Sie versäumen ja alles, Essen und Trinken und Freundschaft!“ So rief Herr Erhard im Näherkommen. „Wissen Sie auch, daß Sie sich schon beinah anderthalb Stunden dieser Pflanze gewidmet haben?“ – er faßte mich vertraut unter den Arm und sagte leise: „während ein anderer sich einem andern Pflänzlein widmet, das Sie unter die Familie der Rosen einreihen!“

Ich sah ihn verwirrt und fassungslos an.

„Nun, thun Sie nur nicht so! Diesmal bin ich schlauer gewesen als meine Frau – und es bleibt ganz unter uns! Aber, wenn Sie das Röslein brechen wollen, dann nutzen Sie die Zeit aus, es leuchtet so hell, daß auch andere Knaben es sehen und begehren möchten; und ich weiß ganz gut, weshalb der Herr Nachbar Gutsbesitzer so liebenswürdig geworden ist und uns heute sogar eingeladen hat; meiner schönen Augen wegen nicht! Merkwürdig, daß meine kluge Frau darin offenbar so blind ist!“ Und ehe ich noch in meiner namenlosen Verwirrung eine Antwort fand, zog er mich hinüber zu den andern.

Das Bier schäumte und die Kugeln rollten, die Speisen dufteten und der edle Wein funkelte in den Gläsern; alle andern Gäste – es waren noch mehrere dazu gekommen – waren munter und ihre Fröhlichkeit ging in hohen Wogen auf der Kegelbahn des Herrn von Finkenfelde; aber wenn unsere Augen – seine und meine – sich trafen, dann funkelte in ihnen etwas wie aufglimmender Haß, den wir beide tief innen spürten. Und das alles um das Mädchen, das mir bald wieder im heimrollenden Wagen gegenübersaß, hinaufschauend in den Glanz des Vollmondes, der in ihren Augen sich spiegelte.

In lieblichem Ernst saß sie da. Nun nahm sie den Hut ab; auf ihrem Haar lag der Mondschein und meine Blicke hingen voll süßer Sehnsucht an dem geliebten Angesicht.

„Es war wirklich nett heute bei ihm,“ brach Frau Erhard das allgemeine Schweigen; „finden Sie nicht auch, Fräulein Zorn? Er ist ja ein bißchen plump, aber er hat so etwas Angenehmes.“

„Ja,“ fiel ihr Mann in seiner breiten, gemüthlichen Art ein – „wo der hinküßt, da spürt’s eine; kann sich selbst auf beiden Seiten zugleich etwas in die Ohren flüstern.“

Ach was,“ rief sie ärgerlich, „Ihr hackt auch immer auf ihm herum! Ich muß sagen, ich würde es für eine unverzeihliche Thorheit halten –“

Sie brach ihre etwas hastige Rede plötzlich ab, wohl durch einen gutgemeinten Stoß ihres Gatten gewarnt; und neben meinen Fuß stellte sich ein schlanker, schmaler Fuß mit leisem Druck; ich holte tief, tief Athem:

„Du bist meine, deß sollt’ Du gewiß sein –“

zog es mir tröstend durch den Sinn. Und auch ich blickte hinauf, wo in der lichtdurchglänzten Höhe Stern an Stern funkelte. Da löste sich einer aus der unendlichen, herrlichen Schar und zog in feurigem Bogen am Himmelsgewölbe dahin, aus Nacht in Nacht, verlöschend, vergehend, nur ein Himmelskörper, nur eine kleine, ganz kleine Welt, die da, kurz aufleuchtend, spurlos im Raum zerstob – wie manche Herzenswelt wird ebenso in Trümmer geschlagen und sinkt in finsterer Nacht zusammen! Ein gefallener Stern! Kleinigkeit! Ein Menschenleben! Nichts! –

Am nächsten Tage ging ich mit dem Baron auf den Kirchhof, dorthin, wo Johann, der Kutscher, über die Mauer gestiegen war und in dem Gestrüppe gesucht hatte. Ja, da war auch hier des Räthsels Lösung; dort stand es voll von dem schönen Gewächs mit den spitzen, zu dreien an einem Stengel sitzenden Blättern von glänzend dunkelgrüner Färbung.

Mit denkbarster Vorsicht wurde die Ausrottung vorgenommen; schon die Ausdünstung des Giftsumachs wirkt schädlich auf viele. Der Baron hatte viel Nachdenkliches in seinem Wesen. Als wir nach zwei Tagen wieder da standen, wo jetzt jede Spur der Giftträger verschwunden war, nahm er etwas von der Erde auf den Spaten. „Nun sehen Sie nur diese Erde, reiner, schwerer, schwarzer Humus! Und den gerade muß sich das Gift aussuchen, und könnte sonst so viel Gutes da wachsen, wo der Unhold widerstandslos seine Wurzeln einschlägt und üppige Nahrung zieht. Muß irgendwie von Finkenfelde hierher verschleppt worden sein, vielleicht bei einer Beerdigung – sie begraben auch hier von altersher – mit einer Blume, oder sonst irgendwie –“

Jawohl, Herr Baron, auf Finkenfelde war’s gediehen, das üppige Giftgewächs, und von daher kam es; und es suchte sich guten, reinen Boden aus, der nur leider eigentlich einem andern gehörte und andere Blüthen hätte tragen sollen! Rosen, für mich, und Myrthen, und junge, frische grünende Reislein – –!

So kam die Zeit des Examens heran.

„O, wenn Du erst fort bist!“ klagte Gertrud und schmiegte sich in meinen Arm, „wie werde ich es ertragen! Und zu Hause all das Leid; mein armer, kranker Vater, der sich mühsam durchs Amt und durchs Leben schleppt! Wie soll’s noch werden! Wäre ich nur erst Dein, unter Deinem Schutz und lieben Schirm!“

Immer inniger waren wir verwachsen; es war ein gottgesegneter heimlicher Brautstand. Ich glaub’, sie wußten’s alle, oder ahnten es doch, auch Frau Hedwig. Aber alle waren still, keiner rührte daran. Auch der von Finkenfelde nicht. Seit jenem Nachmittage hatte er sich merkwürdig ruhig verhalten. Ich sagte es einmal zu Gertrud. Sie wurde roth und sah mich an. „Freu’ Dich drüber, wie ich mich freue!“ sagte sie. –

Verbarg sie mir doch etwas? – Warum?

So kam der Tag des Abschieds.

Es war Hochsommer und auf den Feldern wurde das Korn gemäht. Die Lerchen waren still geworden. Wir standen Hand in Hand unter dem Glockenstuhl, aufrecht, lieblich, jungfräulich stand sie da und sagte leise:

„So zieh’ mit Gott, und hol’ mich bald!“ – Und wie ich sie zum letztenmal an meine Brust zog, die süße Gestalt, und wie sie den letzten, heißen Kuß auf meinen Mund drückte, da sah ich über ihre Schulter hinaus ins Feld und die Augen brannten mir; ich hob ihr Gesicht empor, und es kam über meine Lippen,

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