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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

20.

Die Mitternachtsstunde nahte. Immer dichter wurde das Gedränge auf den Straßen.

Romeo saß in seinem engen Stübchen in ernstem Gespräch mit Salvatore zusammen, als Felicita und Nina hereintraten.

„Du kommst spät, Felicita,“ sagte der Vater. Ein Glück war’s, daß er das Antlitz seiner im Schatten stehenden Tochter nicht sehen konnte und die Gluthröthe nicht bemerkte, die sich über ihre Wangen ergoß.

„Wir gingen noch zur Kirche,“ erwiderte das Mädchen, „ich wollte noch beichten, bevor …“ ihre Stimme stockte.

„Bevor?“

„Ich habe eine Ahnung,“ sagte sie mit langsamer und seltsam fester Stimme, „daß ich sterben werde. An Deiner Seite will ich kämpfen, Vater – und kommt der Tod, so sei er mir willkommen. Heute abend habe ich mit dem Leben abgeschlossen.“

Salvatore zuckte verächtlich die Achseln.

„Dummes Mädchengeschwätz!“ murmelte er vor sich hin.

„Laß gut sein, Kind!“ sprach sanft begütigend Romeo zu ihr; „Du siehst schwarz seit jener Schreckensnacht. Zusammen werden wir die Freiheit unseres Volkes feiern!“

„Ich feiere keine Feste mehr!“ war Felicitas Antwort.

Es lag etwas Ungewohntes in ihrem Wesen. Betroffen schaute Romeo zu ihr hin.

„Lassen wir das!“ fuhr er, zu Salvatore gewendet, fort; – „ich sage Dir: heute nacht muß losgeschlagen werden! Ein Kriegsschiff ist von Neapel unterwegs, in wenigen Tagen wird es hier ankommen; ehe es aber den Hafen anläuft, muß die Stadt in unserer Gewalt und Sicilien befreit sein!“

Salvatore nickte lächelnd.

„Es steht alles bereit, Romeo. Heute nacht greift das Volk zu den Waffen.“

„Wie lassen wir’s unsere Leute wissen?“

„Sie warten nur auf ein verabredetes Zeichen.“

„Was ist das Zeichen?“

„Wenn der Strohmann, den die Masken vor Dein Haus führen und dem sie hier das übliche Miserere singen werden, die Uniform eines Schweizers trägt, – so läuten morgen bei Tagesgrauen die Glocken Sturm.“

„Ist’s besorgt?“

„Mein Sohn hat’s besorgt; – die Uniform ist gefunden.“

Lautes Schreien ertönte von der Straße herauf. Der Zug rückte heran. Die beiden traten auf den Balkon.

Vom Ende der Straße her bewegte sich, von der Volksmenge umgeben, eine lange Reihe von Lichtern und Fackeln. Sonderbare Leichengesänge vermischten sich mit dem Rufen und Lachen der Masken und der Zuschauer. Als der Zug sich dem Hause Romeos näherte, erkannte man die von einem breiten weißen Tuche noch verhüllte Bahre, auf welcher der todte Karneval lag. Sie ward von sechs vermummten Gestalten getragen, weißen Büßenden, deren Augen unheimlich aus den zwei runden in die spitzen Kapuzen geschnittenen Löchern hervorblitzten. Andere Kapuzenmänner mit brennenden Kerzen in der Hand umstanden singend den von Laken bedeckten Strohmann.

Der Zug machte vor Romeos Hause Halt. Die Bahre wurde langsam niedergesetzt.

„De profundis!“ sangen die Stimmen. Lautlos harrte jetzt die Menge.

Romeos Thür öffnete sich. Ein Vermummter trat herein. Er schaute sich um. Als er Felicita gewahr wurde, schien es, als zucke er zusammen. Dann verneigte er sich vor ihr und bot ihr die Hand.

„Ach, Vater!“ flehte das Mädchen, „eine andere als ich … nicht heute!“

„Geh’, Felicita!“ sprach aber Romeo; „unsere uralte Sitte erheischt, daß ein Mädchen dem todten Karneval das letzte Lebewohl zurufe. Daß meine Tochter heute vom Volke dazu erwählt wurde, ist gerade jetzt eine Ehre für uns, – eine Antwort für Deine Verleumder. – Thue es!“

Sie folgte dem Vermummten und trat auf die Straße.

„Weine, weine, schönes Mädchen!“ sang eine der Masken, indem Felicita zu dem Kopfende der Bahre geführt wurde; „weine um deine Lebenslust, die wir heute begraben. Die Lust ist todt! Die Liebe ist todt!“

Es rieselte kalt durch Felicitas Glieder. Sie mußte sich Gewalt anthun, um die ihr in dieser Faschingstragödie auferlegte Rolle zu spielen.

„Schlafe ruhig, armer Todter!“ sang sie, in das phantastische Klagelied einstimmend, – „all unsere Lust und Liebe nimmst du mit dir hinunter in das kühle Wellengrab!“

Im selben Augenblick wurde das Laken, das die Bahre bedeckte, emporgehoben; die Umstehenden drängten sich näher; – es war die Uniform der schweizer Garde!

Eine starke Faust umklammerte Felicitas Arm und riß das Mädchen zu dem Strohmann hin. – Der hier lag, war aber kein Strohmann! Das bleiche Antlitz eines Todten starrte sie an; – ein Messer in der Brust, lag, auf der Bahre hingestreckt, Eckart von Hattwyl!

„Liebe ihn jetzt!“ raunte ihr Antoninos Stimme ins Ohr.

Mit einem markerschütternden Aufschrei sank Felicita zusammen.

„Zu den Waffen! zu den Waffen!“ jubelte das Volk.


21.

Der Aufruhr war ausgebrochen. Die Stadt hatte sich mit Barrikaden bedeckt. In hellen Haufen strömten die Bewaffneten in die Straßen. Die Schweizer räumten das Innere der Stadt und zogen sich in die Citadelle zurück. Auf jeden, der sich den Mauern nahte, auf jedes Boot, das zu der Festung hinruderte, so lautete der Befehl des Gouverneurs, sollte mit Kartätschen geschossen werden.

An der Spitze der Aufständischen kämpfte Romeo, an seiner Seite Felicita. Eine seltsame Veränderung war mit dem Mädchen vorgegangen. Kein Wort entrang sich ihren zusammengepreßten Lippen. Eine düstere Gluth brannte in ihrem Auge. Eine weihevolle Hoheit lag in ihrem Wesen. Wie eine von dem nordischen Götterhimmel herabgestiegene Walküre bewegte sie sich unter den Kämpfenden.

Bevor sie ihr Haus verlassen hatte, war sie vor dem Vater in die Kniee gesunken.

„Vater!“ hatte sie zu ihm gesagt, aber mit so fester, tonloser Stimme, daß es den Vater schauderte, – „ich habe mich an Dir und an meinem Volke versündigt; – aber mit meinem Blute will ich die Sünde auswaschen; – lege Deine Hände auf das Haupt Deines Kindes und segne mich, zum letztenmal!“

„Kind!“ schluchzte Romeo, „das Meinige hatte ich gethan, um das Dir theure Leben zu schützen. – Wie es geschah, ich weiß es nicht! – Verzeihe mir!“

Aber mit abwehrender leidenschaftlicher Gebärde rief Felicita:

„Nein! Dem Kinde hat der Vater, nicht dem Vater das schuldige Kind zu verzeihen.“

Klanglos sprach sie die Worte vor sich hin. Fragend, bestürzt blickte der Vater zu ihr nieder, während er segnend die Hände auf ihren Scheitel legte.

War das Felicita, seine Tochter? Eine stille, hohe Würde, eine himmlische Entsagung umschwebte ihre Gestalt.

Sie erfaßte seine Hand und bedeckte sie mit inbrünstigen Küssen.

„Lebe wohl, Vater, geliebter Vater! Wenn ich sterbe, so gedenke meiner als Deines treuen, um Verzeihung flehenden Kindes! – Und sollte die Kugel, die ich suche, mich nicht treffen, – so lasse mich mein Leben im Kloster beschließen, – dort in jenem Kloster, wo das wunderthätige Bild hängt, – das in der Kirche der Badiazza war, – in der Kirche, – wo meine Schuld anfing …“

Sie konnte nicht weiter sprechen, – und von dieser Stunde an sprach sie keine Silbe mehr.

Während der Kampf in den Straßen tobte, sah man Romeos Tochter an den gefährlichsten Stellen.

„Sie sucht den Tod!“ flüsterten sich die Kämpfenden unter dem Kugelregen zu.

Der Tod mähte rechts und links; das Mädchen aber verschonte er.

Die Königlichen hatten Verstärkung erhalten. Eine Reitertruppe sprengte aus der Citadelle gegen die Barrikaden hervor. Die Munition ging den Aufständischen aus. Eine letzte mit Kartätschen geladene Kanone stand auf dem Steinwall; neben der Kanone, die brennende Lunte in der Hand, Felicita.

Die Reiter stürmten in das aufgelöste Volk, das nach allen Seiten hin auseinander stob.

Plötzlich funkelte Felicitas Auge auf; – den ersten der Fliehenden hatte sie erkannt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 726. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_726.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)