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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Ein deutsches Mädchen auf dem Kriegspfade.

Von Dagobert von Gerhardt (Amyntor).
(Schluß.)


Wie heißen Sie denn, mein armes Kind?“ fragte ich nach einer Pause das Mädchen.

„Marie Segner.“

„Haben denn Ihre Eltern erlaubt, daß Sie sich in solch ein Wagniß begeben?“

„Ich habe keine Eltern mehr; ich bin eine Waise und diene in X. bei fremden Leuten.“

„Denen Sie also fortgelaufen sind?“ fragte ich unwillkürlich im Tone eines leisen Vorwurfes.

„Freilich bin ich fortgelaufen,“ jammerte sie; „ich mußte ja fortlaufen, denn wenn ich erst lange hätte warten und fragen wollen, dann wäre ich ja vielleicht zu spät gekommen. Großer Gott, vielleicht ist es schon zu spät! Ach, Sie wissen gewiß darum; bitte, bitte, sagen Sie mir, ob mein Fritz noch am Leben ist!“

„Nun, ich kann Sie beruhigen. Er lebt. Er hat sich sogar das Eiserne Krenz erworben und wird von seinen Vorgesetzten und Kameraden hoch geschätzt …“

„O du Allgütiger! Ist das wahr? So sind meine Gebete erhört worden? Ach, mein Gott! mein Gott! so viel Glück ist zu viel!“ – Sie hemmte den Schritt; es schien mir, als ob sie sich kaum noch auf den Füßen halten könnte.

Ich holte aus meiner linken Satteltasche meine Feldflasche hervor.

„Da, mein Kind, trinken Sie einen Schluck! Das wird Ihnen neue Kräfte geben. Sie müssen ja ganz erschöpft sein.“

Sie nahm die Flasche und brachte sie an ihre Lippen. Dann sagte sie aufathmend:

„Ich danke schön, das hat gut gethan! Seit vier Tagen habe ich keine ordentliche Mahlzeit mehr genossen.“

„Sehen Sie dort den Schein des Lagerfeuers? Dort ist mein Bataillon. Wenn Sie imstande sind, mir bis dorthin zu folgen, dann will ich Sie weiter fahren lassen … soll ich Sie vor mich auf das Pferd nehmen?“

„Nein, ich danke; es geht schon wieder. Sie sind so gut, Herr Offizier! Der Himmel möge es Ihnen lohnen!“

Sie marschierte wieder tapfer neben mir her.

Ich verhielt den Schritt meines Pferdes, um ihr keine allzu schwere Aufgabe zu stellen.

Als wir im Feuerschein meines Bivouacs angekommen waren, bemerkte ich, daß Marie Segner ein hübsches blondes Mädchen war; trotz der kräftigen Entwickelung ihres Wuchses mochte sie kaum zwanzig Jahre zählen.

Ich winkte meinen Adjutanten heran und besprach mit ihm den Vorfall.

„Wir müssen sie wahrhaftig noch heute abend dem kommandirenden General auf den Hals schicken.“

„Sonst könnte es auch leicht zu spät werden,“ versetzte der Adjutant. „Der Herr Major sind morgen früh zehn Uhr zum Kriegsgericht nach Y. kommandirt; es ist nicht unmöglich, daß dies das Kriegsgericht über den betreffenden Gefreiten ist. Wenn die Fürsprache jenes Mädchens auch gänzlich nutzlos sein wird, so ist sie doch wenigstens noch zu rechter Zeit eingetroffen und braucht sich später in dieser Hinsicht keine Vorwürfe zu machen.“

„Sagen Sie dem Zahlmeister, er soll meinen Stabswagen anspannen lassen und das Mädchen hinüberfahren.“

„Zu Befehl!“

Nach zehn Minuten verließ Marie Segner, die auf meine Veranlassung mit dem, was ein Bivouac bieten konnte, erquickt worden war, unter lebhaften Dankesversicherungen unseren Lagerplatz. Sie saß auf einem Leiterwägelchen, mein Zahlmeister als Schutz neben ihr, und einer meiner Trainsoldaten zügelte das von der Unthätigkeit längeren Bivouakirens muthige Gespann.

Mein Adjutant las mir inzwischen Losung und Feldgeschrei und die sonstigen Tagesbefehle vor, die in meiner Abwesenheit eingegangen waren; dann kroch ich in meine sehr schadhafte Strohhütte, wickelte mich in eine Pferdedecke und versuchte zu schlafen. Aber es wollte mir nicht gleich gelingen; mich hielten die Schüsse, die ab und zu vorn bei den Vorposten fielen, vielleicht auch der Gedanke an das thörichte unglückliche Mädchen und seinen beklagenswerthen Bräutigam noch längere Zeit wach. Endlich aber verschwammen mir die Kreise des Denkens, ich entschlummerte, und als ich die Augen wieder aufschlug, stand schon die Sonne am leicht bewölkten Himmel.

Der erste Morgengruß, den ich erhielt, war eine Granate, die dicht vor der Front meines Bivouacs einschlug und deren Sprengstücke heulend über uns hinwegwirbelten. Ich trank schnell einen Schluck sehr zweifelhaften Kaffee, den mir mein Stabskoch in einem von Hammelfett nicht ganz freien Kochgeschirr bereitet hatte, und schwang mich in den Sattel, um meiner Ladung nach Y. nachzukommen.

Es war erst neun Uhr, als ich vor dem Quartier des Kommandirenden vom Pferde stieg. Das Kriegsgericht sollte um zehn Uhr in einem Wirtschaftsgebäude abgehalten werden, das mit zu dem Gehöft gehörte, in welchem sich das Generalkommando eingerichtet hatte; mir blieb also noch Zeit, mit den Herren des Stabes zu plaudern und endlich einmal wieder eine gute Cigarre zu rauchen.

Unter anderem erzählte man mir auch, daß gestern abend ein deutsches Mädchen ganz allein eingetroffen und bis zu Seiner Excellenz vorgedrungen wäre, um sich für das bedrohte Leben ihres Geliebten zu verwenden. Da ich meinem Zahlmeister befohlen hatte, Marie unmittelbar vor dem Dorfe abzusetzen und dann ist aller Stille und unbemerkt wieder zurückzukehren, so ahnte niemand, daß ich es war, der sie hatte befördern lassen. Ich ließ mir denn auch die Mittheilung ruhig gefallen und stellte mich so, als ob ich etwas durchaus Neues erführe.

„Wo ist denn die Aermste geblieben?“ fragte ich scheinbar verwundert.

„Der General hat sie nicht wieder in Nacht und Grauen hinausjagen mögen,“ versetzte ein Generalstabshauptmann, „sie ist in die Stabsküche gesteckt worden und kann, wenn sie Lust hat, so den Feldzug mitmachen.“

Das Erscheinen des Höchstkommandirenden, der, die Mütze auf dem Kopfe und eine Cigarre im Munde, vor die Thür trat, störte unsere Unterhaltung.

Ich ging an Seine Excellenz heran und meldete mich zum Kriegsgericht kommandirt.

Er zog die Uhr und sagte: „Erst halb zehn; Sie haben noch eine halbe Stunde Zeit … kommen Sie! Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen.“

Wir schritten um das Haus herum nach einem Garten, in dem schon die Weintrauben bläulich zu schwellen begannen. Die andern waren vor dem Hause geblieben; wir waren allein.

„Rauchen Sie ruhig weiter,“ sagte der General, welcher bemerkte, daß ich eine brennende Cigarre in der Hand hielt, „Sie sehen, ich gestatte mir selbst diesen Genuß. Was ich sagen wollte: die Sache, über die Sie nachher kriegsgerichtlich urtheilen werden, liegt recht mißlich für den Angeschuldigten. Ich habe sie mir vom Auditeur vortragen lassen; der Gefreite Dornbusch hat Hand an einen Vorgesetzten gelegt und er wird, ohne Zweifel, zum Tode verurtheilt werden müssen. Ich habe aber auch erfahren, wie tapfer sich der Unglückliche benommen hat; er ist dekorirt worden; auch jener Windbeutel von Unteroffizier, dem er eins versetzt hat … wie hieß er doch? …“

„Jesaias Schellbaum, wenn ich mich recht erinnere,“ warf ich dazwischen.

„Richtig, ganz richtig! Jesaias Schellbaum … nun, dieser Schellbaum scheint einen eben so festen Schädel zu haben, als er ein ungewaschenes Maul hat … die Meldung ist eingegangen, daß er als völlig geheilt aus dem Lazareth entlassen und zu seinem Truppentheil wieder in Marsch gesetzt worden ist … er wird, denke ich, in diesen Tagen bei seinem Bataillon eintreffen. Das sind Umstände, die den armen Teufel von Gefreiten wohl einer milden Beurtheilung empfehlen dürften. Ich darf und will natürlich Ihnen, als dem Präses des Kriegsgerichtes, in keinerlei Weise vorgreifen; sollte das Gericht aber etwa ein Gnadengesuch für den Verurtheilten beantragen, so würde ich mich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 702. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_702.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)