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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

fristete die im Jahre 1570 aus der Vereinigung von Luteranern, Reformirten und böhmischen Brüdern entstandene Gemeinde nur mit Mühe ihr Dasein. Ihre Kapellen wurden im Laufe des nächsten Jahrhunderts wiederholt von dem aufgehetzten Pöbel zerstört. Lange Zeit hielt die Posener lutherische Gemeinde ihre Gottesdienste in dem benachbarten Städtchen Schwersenz, erst im Jahr 1786 wurde ihr von dem Könige Stanislaus August gestattet, sich an der Grabenstraße, am Ufer der Warthe, jene Kirche zu erbauen, deren hundertjähriges Bestehen im Jahre 1886 festlich begangen worden ist.

Wenden wir uns nun von der Altstadt weiter nach Westen, so gelangen wir in einen Stadttheil, welcher mit seinen breiten, regelmäßigen Straßen, seinen großen, schönen, zum Theil mit gärtnerischen Anlagen geschmückten Plätzen, seinen eleganten, größtentheils neuen Gebäuden einen ganz modernen Eindruck macht. In diesem bedeutend höher als die Altstadt gelegenen, nach Westen hin von den Festungswerken begrenzten Stadttheile, der sogenannten Oberstadt, bilden der Wilhelmsplatz und die nach Art der Berliner Linden mit einer schönen Promenade versehene Wilhelmsstraße gewissermaßen den Mittelpunkt des Verkehrslebens.

Die rasche Entwickelung dieses Theiles der Stadt, welcher früher nur eine wenig bewohnte Vorstadt gewesen war, beginnt 1815 mit der Einverleibung des Großherzogthums Posen in den preußischen Staat. Die Bestrebungen der Regierung zur Stärkung des Deutschthums in Stadt und Provinz fanden ihren Ausdruck in verschiedenen Maßnahmen, unter anderem auch in der durch einen namhaften Zuschuß aus der königlichen Schatulle und unentgeltliche Ueberlassung des Bauplatzes ermöglichten Errichtung eines Stadttheaters auf dem neu angelegten Wilhelmsplatze. Die Einweihung des Theaters, dessen erster Pächter der bekannte Schauspieldirektor Döbbelin war, fand am 17. Juni 1804 statt. Es war ein mäßig großes, schmuckloses Gebäude, welches jedoch den damaligen bescheidenen Ansprüchen genügte. Selbst Heinrich Heine, welcher im Jahre 1822 Posen besuchte und dort sehr viel zu tadeln fand, lobte das Theatergebäude.

„Ein schönes Gebäude,“ so schreibt er aus Posen an den Gubitzschen „Gesellschafter“, „haben die hiesigen Einwohner den Musen zur Wohnung angewiesen, aber die göttlichen Damen sind nicht eingezogen und schickten nach Posen bloß ihre Kammerjungfern, die sich mit der Garderobe ihrer Herrschaft putzen und auf den geduldigen Brettern ihr Wesen treiben. Die eine spreizt sich wie ein Pfau, die andere flattert wie eine Schnepfe, die dritte kollert wie ein Truthahn und die vierte hüpft auf einem Beine wie ein Storch. Das entzückte Publikum aber sperrt ellenweit den Mund auf. – Auch einen Theaterrecensenten giebt es hier. Als wenn die unglückliche Stadt nicht genug hätte an dem bloßen Theater.“

Den Ansprüchen der Neuzeit genügte das alte Theatergebäude aber doch nicht mehr; so wurde es im Jahre 1877 abgebrochen und an seiner Stelle mit einem Kostenaufwande von 400 000 Mark der stattliche Neubau errichtet, welchen unsere Abbildung S. 686 zeigt. Auch zu diesem Bau hat die königliche Privatkasse einen namhaften Beitrag geleistet und sie gewährt außerdem zur Unterhaltung des Theaters einen jährlichen Zuschuß. Unter tüchtigen Direktoren wie Grosse, Scheerenberg und Jesse hat sich das neue Theater stets auf der Höhe einer guten Provinzialbühne behauptet, wenngleich die Theilnahme des deutschen Publikums viel zu wünschen übrig läßt und die polnische Bevölkerung die ausschließlich deutschen Vorstellungen im Stadttheater überhaupt nicht besucht.

Die St. Pauli-Kirche.

Außer dem Stadttheater besitzt die Oberstadt noch eine ansehnliche Zahl schöner Gebäude. Wir nennen davon zunächst die am Wilhelmsplatz belegene Raczynskische Bibliothek, eine Stiftung des Grafen Eduard Raczynski. Der nach dem Vorbilde des Louvre hergestellte Prachtbau enthält etwa 20 000 Werke und einige hundert Handschriften und Urkunden.

Ebenfalls am Wilhelmsplatz liegen die Kommandantur und das umfangreiche Gebäude der Polizeidirektion. Bemerkenswerth sind ferner das noch im Ausbau begriffene neue Generalkommando auf dem Kanonenplatz, das Postgebäude, das Provinzial-Ständehaus, das Oberlandesgericht und das Landgericht, sowie das Gebäude der Provinzial-Steuerdirektion, alles Bauten in modernem Stil. – An Kirchen ist die Oberstadt weniger reich als die älteren Stadttheile. Ein schöner Bau in gothischem Stil ist die evangelische Paulikirche, von welcher wir eine Abbildung beifügen. Nahe derselben, von dicht belaubten Bäumen umschattet, liegt in stiller Abgeschiedenheit das schlichte Bauwerk, welches der Zeichner mit aufgenommen hat, die Leichenhalle des Garnisonlazareths. Der Vorübergehende hemmt hier unwillkürlich den Schritt und liest die zu ernster Betrachtung mahnende Inschrift, welche über dem Portal angebracht ist: „Requiem aeternam dona iis, Domine!“ („Schenke ihnen, o Herr, die ewige Ruhe!“) So mancher jugendfrische Soldat, die Freude und der Stolz seiner Eltern, ist hier, von tückischer Krankheit gefällt, in das letzte harte Bett gelegt worden. – Auch eine historische Erinnerung knüpft sich an diese Stätte. Von hier aus wurden im Winter 1870 bis 1871 alle die französischen Kriegsgefangenen, welche, erschöpft von den Strapazen des Feldzuges, in der Gefangenschaft starben, von ihren

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 685. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_685.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)