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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Eine Ziegenherde zog das Thal herauf. Müde ließen die Thiere die Köpfe hängen. Zu schnellerem Schritte trieb sie der schwer sich hinter ihnen herschleppende Hirt an; unter der Last der Kaktusblätter, die er zur Ziegenfütterung in seinem langen Zwerchsack über den Schultern trug, keuchte er mühsam. Einige Bauern auf ihren Eseln kreuzten seinen Weg.

„Spute Dich, Ciccio!“ riefen sie ihm zu; „es ist noch weit bis zu Deiner Hütte, und dort hinten wettert es schon!“

Eine lähmende Mattigkeit hatte sich Felicitas bemächtigt. Unter dem Drucke des unheimlichen Wüstenwindes erschlafften Muskeln und Nerven. Ein leises Beben beängstigte ihr Herz, als sie an den Vater dachte, der vielleicht zu dieser Stunde die andere Bergesseite hinaufritt und dem auf dem unwegsamen Gebirge kein Haus, keine Hütte ein schützendes Obdach gegen den drohenden Sturm bieten würde. Noch ein anderes Gefühl gesellte sich aber zu dieser Besorgniß. Seit drei Tagen wartete Felicita mit immer mächtiger sich entflammender Sehnsucht auf den so heiß erhofften und doch wieder gefürchteten Besuch des Offiziers, der, die Unfindbare suchend, tagtäglich das Thal durchkreuzte, die zwischen Mauern und Kaktushecken sich hinschlängelnden Seitenwege durchforschte, bis zum Kloster hinaufritt und abends langsam und mit schlaffem Zügel nach Messina zurückkehrte. Sie verfolgte von weitem seinen Ritt; ihr Herz jauchzte auf, wenn die hohe, ritterliche Gestalt hinter den Häusern hervortrat, sie wagte es jedoch nicht, sich dem strengen Mahnen ihrer Dienerin ungehorsam zu zeigen, – und auch in ihre Seele zog eine Dämmerung ein, wenn er abends unverrichteter Sache wieder thalabwärts trabte. Wie oft hatte sie sich gefragt, wie sie es anstellen könnte, um ihm den so unermüdlich gesuchten Weg zu erschließen, ohne daß ihr dadurch ein Vorwurf erwachsen könnte. Wie oft hatte sie in der letzten Nacht sich vorgenommen, hinunterzueilen zu der Stunde, wo er bei dem Kloster anzulangen pflegte, ihn wie durch Zufall in der Kirche zu treffen, wo sie häufig ihr Gebet verrichtete, ihn zu begrüßen, ihn zu sprechen, – und dann wieder zu verschwinden in ihrem unfindbaren Versteck. Mit stets lebendigeren Farben malte sie sich in ihrer südlich feurigen Einbildungskraft das Wiedersehen aus dort in der heimlichen Einsamkeit der Klosterkirche, unter den schweigsamen Gewölben der Normannenkapelle. Gab ihr das Schicksal nicht gleichsam einen verstohlenen bedeutsamen Wink, daß der in einem Klostergarten erblühte Traum sich in einer Klosterkirche fortspinnen sollte?

„Nina!“ sagte sie plötzlich, „ich gehe zur Kirche, die Mutter Gottes anzurufen, daß sie den Vater auf seiner Reise beschütze.“

Ein dumpfer Donner rollte durch das Thal.

„Ich begleite Dich,“ erwiderte Nina, „und zieht das Gewitter über die Berge, so sind wir rasch wieder zurück.“

Beschleunigten Schrittes verließen die beiden das Haus und eilten zwischen den Ruinen der Klostergebäude bis an das Flußbett, wo sie, um die scharfe Felsenecke biegend, die Kirche vor sich liegen sahen. Die Thür war offen; sie traten in die noch düsterer als gewöhnlich unter den Gewölben lagernde Dämmerung und knieeten am Hochaltar nieder. Eine erfrischende Kühle erfüllte den stillen Raum; gegen den verzehrenden Hauch des Gluthwindes schützten die massiven Granitmauern das in grabesähnlicher Einsamkeit liegende Gotteshaus. Kaum vernahm man hier noch das dumpf dröhnende Rollen des nahenden Gewitters. In die Herzen der beiden Frauen senkte sich eine linde, köstliche Ruhe, und hatte sich auch Felicita beim Hereintreten verstohlen unter den Säulengängen umgeschaut, ob nicht ein anderer vielleicht aus dem Dunkel auf sie herzutrete, so legte sich doch allmählich die fieberhafte Wallung ihres Blutes und unter dem heimlich stillen Eindruck des dämmernden Gotteshauses löste sich ihr Wesen auf in ein kindlich frommes Hingeben und in ein inbrünstiges Beten.

Draußen aber brach mit von Minute zu Minute steigender Gewalt das vom brausenden Orkan über den Gebirgskamm gejagte Ungewitter los. In immer kürzeren Pausen, gleich wie das mächtige Schnauben der zu furchtbarem Kampfe erwachenden Naturkräfte, heulten die Windstöße durch das Thal. Der gelbgraue Wolkenschleier senkte sich schwerer und tiefer herunter, das ganze Himmelsgewölbe in eine eintönige, unheimlich schillernde Dämmerung einhüllend. Unheilverkündend flammten die Blitze schon um die nahen Bergesgipfel. Aus den hinteren, von jähen Abgründen durchfurchten Klüften klang es dumpf und furchtbar wie ein wildes Stöhnen durch das schrille Pfeifen des Windes. Die Elementarkräfte entfesselten sich.

Plötzlich senkte sich wie vom Himmel heruntergezogen das Gewölk über den hohen, den Horizont abschließenden Bergesrücken; – die Kämme waren überschritten. Jetzt nahte das Wetter, – jetzt gnade Gott denen, die kein Obdach noch gefunden hatten! Ein Prasseln und Rasseln, ein Heulen und Schmettern erhob sich, als ob dort hinten ein mächtiger Wasserfall mit wüthender Stromesgewalt den Berg herunterschösse. Durch die vom Winde aufgerissenen Kirchenthüren zuckte ein jäh aufflackernder Blitzstrahl; ihm folgte unmittelbar ein Donnerschlag, der das Gebäude bis in seine Grundfesten erbeben machte.

„Heilige Madonna!“ schrie eine Stimme, die aus dem oberen Rundbogen herabzutönen schien, „die Fiumara kommt!“

Entsetzt sprangen die beiden Frauen auf.

In demselben Augenblicke kam in athemloser Hast draußen ein Reiter angesprengt. Er stürmte, gegen den Wind ankämpfend, den kleinen Hügel hinauf. Die im Freien Rettung suchenden Mädchen flohen der offenen Thüre des Gotteshauses zu. Eilende Schritte hallten in der Kirche wieder.

„Haltet ein! Keinen Schritt weiter! Draußen seid Ihr verloren!“ rief es hinter ihnen.

Fra Serafino stürzte die Steintreppe herunter, den beiden Frauen nach; nur die langsamere Nina aber konnte er erreichen, – Felicita war schon im Freien. Doch wie vom Blitze getroffen blieb sie dort stehen: – vor ihr, sein Pferd am Zaume gegen die Klosterpforte ziehend und mit aller Kraft gegen den Sturm ankämpfend, erschien Eckart.

Schon aber hatte der Orkan die Unglückliche erfaßt. Sie stieß einen gellenden Schrei aus. Von einer unwiderstehlichen Gewalt fühlte sie sich ergriffen und fortgerissen, – und vom Thalgrunde her rollte schon das prasselnde Brausen des von dem Bergeskamme in das Flußbett herunterschießenden Wolkenbruches. Mit verzweifelter Kraft klammerte sich das Mädchen an eine neben der Thür vorspringende Mauerecke; aber was vermochte sie gegen den Sturm? Schon schwanden ihr Kraft und Sinne, – da fühlte sie sich von einem starken Arm erfaßt, von der Erde aufgehoben; – verzweiflungsvoll umklammerten ihre Arme den Retter, ihre Augen begegneten seinem Blick, – „Madonna!“ rief sie und lag bewußtlos an seiner Brust.

An ein Kämpfen gegen den Orkan, an ein Umkehren nach der Kirche war nicht mehr zu denken … Dort unten öffnete sich eine Gasse, den Berg hinan, – dort hinter jenem Felsvorsprung war Rettung! In mächtigem Satze, vom sausenden Winde getrieben, flog Eckart, das ohnmächtige Mädchen fest an sich schließend, den Hügel hinunter.

„Hilf, Himmel! Das Wasser erfaßt sie!“ gellte es von der Kirchenthüre … Einen Augenblick noch, und der wüthende Bergstrom hätte die Fliehenden fortgerissen, – aber mit rascher Hand klammerte sich der Ritter an die Felsenkante, und in fliegendem Schwunge war er mit dem geretteten Mädchen hinter der schutzbringenden Ecke geborgen.

In der Kirche bemühten sich zwei Priester um die jammernde Nina. Dem kühnen Sprunge des Offiziers waren ihre Blicke gefolgt; ob die beiden aber gerettet seien, wer hätte es in der alles überfluthenden Dunkelheit wahrnehmen können?

„Felicita! Felicita!“ schrie händeringend die Arme; „was wird Dein Vater sagen, daß ich so schlecht über Dich wachte!“

„Wer ist denn ihr Vater?“ fragte der eine.

„Romeo!“ antwortete sie; „Romeo, der Tischlermeister, der Capo Popolo!“

Ein Lächeln flog bei diesem Namen durch Scagliones Auge.

Im selben Augenblick aber durchzuckte ein gewaltiges Beben die Kirche. Durch ein zersplitterndes Fenster an der hinteren Wand schlug eine Welle und schwemmte eine Lache von gelber Erde und rollenden Steinen bis an die Stufen des Altars.

„Heilige Mutter Gottes!“ schrie Fra Serafino, „die Fluthen dringen in die Kirche! Wir sind verloren!“

„Dort! dort hinauf!“ rief Scaglione, auf die Wendeltreppe deutend, und, Nina mehr tragend als führend, flüchteten beide in das obere Gemach, während die am Hochaltar brandenden Schlammwogen die Kirche mit Trümmern und Schutt überflutheten.


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