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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Wehmuth schwebt über derselben! Wie anders die Schlußscene unserer Tragödie: Odysseus stößt im Gewittersturm vom Ufer und Nausikaa stürzt sich ins Meer, um den Zorn des Poseidon zu versöhnen.

Einer solchen Katastrophe müssen allerdings leidenschaftliche Scenen voraufgehen, von denen die Muse Homers keine Ahnung hat. Odysseus kämpft mit einem Nebenbuhler und besiegt ihn, das Volk der Insel ist aufgeregt wider ihn, doch Alkinoos besänftigt diese Aufregung und ist bereit, dem Odysseus die Hand seiner Tochter zu geben. Da muß dieser bekennen, daß er schon verheirathet ist; schon früher wollte er dem Mädchen von seiner Penelope sprechen, doch der eifersüchtige Nebenbuhler hinderte ihn daran.

Dieser Zufall spielt eine allzu wichtige Rolle und fällt dem Rade der Handlung in die Speichen, sonst würde sie schon einen Akt früher zum Abschluß gekommen sein. Die Dichtung trägt einen goethisirenden Charakter und es fehlt einigen Scenen auch nicht ein wärmerer poetischer Hauch.

Am Wiener Burgtheater hat man den Versuch gemacht, Friedrich Hebbels Drama „Gyges und sein Ring“ aus dem Schlafe der Buchdramatik zu scenischem Leben zu erwecken, nicht ohne Glück, obschon schwerlich zu dauerndem Gewinne für das Repertoire. Das Drama birgt viele köstliche Edelsteine der eigenartigen Hebbelschen Dichtweise; es ist sogar nicht so herb gehalten wie andere seiner Dramen; doch der Stoff ist gewagt und berührt uns fremdartig, und das tragische Ende der Heldin Rhodope hat für uns nichts Ueberzeugendes.

Wie das Trauerspiel und Schauspiel, so zeigt auch das Lustspiel eine verschiedene Physiognomie, wenngleich die Eigenart der Dichter hier weniger scharf hervortritt und ein mehr gleichmäßiger und gemeinsamer Rahmen diese heiteren Lebensbilder umschließt. Da haben wir zunächst den Salonschwank, in der letzten Saison vertreten durch „Cornelius Voß“ von Franz von Schönthan, welcher mit ungleichem Erfolg über die Bühnen ging, an den norddeutschen Theatern meistens sehr gefiel, am Wiener Hofburgtheater, welches die Ueberlieferungen des echten und feinen Lustspiels wahrt, abgelehnt wurde. Das Streben nach einem gebildeten, vom Esprit durchleuchteten Gesprächston ist in diesem Lustspiel nicht zu verkennen; aber die Verwicklungen beruhen auf den Zufälligkeiten der Schwankdichtung, und was in dem Stücke komisch wirkt, hat mit der eigentlichen Lustspielhandlung nichts zu thun, sondern es sind eingelegte Späße und Scherze; es ist die Posse im Frack.

Im übrigen sind alle Motive des Stückes sehr verbraucht: prinzliches Inkognito und Namenstausch, die Intriguen eines beschränkten Hofmarschalls, der gegen sich selber intriguirt und das Gegentheil von dem durchsetzt, was er erreichen will; dafür lassen sich zahlreiche dramatische Vorlagen aufweisen. Origineller ist freilich, daß eine geistreiche Salondame einem zwar gutmüthigen, aber doch höchst unbedeutenden, fast lächerlichen jungen Manne ihr Herz schenkt; man wird dadurch überrascht und befremdet, aber eine Lustspielwirkung liegt nicht darin. Dem Schwank im Frack gehört die Scene an, wo die beiden Liebenden in ihren wärmsten Hüllen am warmen Ofen sitzen, weil der Prinz nicht sein sonst durch die hohen Orden verrathenes Inkognito aufknöpfen will und die junge Dame sich scheut, bei einem tête-à-tête ihr ausgeschnittenes Festkleid, da sie gerade von einer Hochzeit kommt, zur Schau zu stellen.

Dies letztere Motiv erscheint schon etwas gesucht; die Scene könnte übrigens in jedem andern Stücke spielen, so wenig hat sie mit der eigentlichen Lustspielhandlung zu thun; doch in diesem Auftritt wie in ähnlichen verleugnet der Dichter des „Raubs der Sabinerinnen“ nicht seine muntere Laune.

Ein echtes Salonstück nach französischem Muster ist Paul Lindaus Lustspiel „Die beide Leonoren“, welches am Deutschen Theater in Berlin zuerst mit Beifall gegeben wurde und seitdem den Weg auf sehr viele große und kleine Bühnen fand. Der Dialog hat die graziöse Feinheit der Pariser Bühnenstücke; der Stoff hätte an der Seine eine kühnere Behandlung erfahren; hier erscheint er in der gedämpften Beleuchtung, welche ihn den deutschen bürgerlichen Kreisen annehmbar macht. Ein junger Konsularbeamter macht der schönen Frau eines Justizrathes den Hof; der Gatte giebt sich die Miene, nichts davon zu bemerken, der Onkel des jungen Beamten aber wacht mit Argusaugen über diese ihm nicht unbedenklich erscheinenden Beziehungen; da erscheint auf einmal, aus einer Pension nach Hause kommend, die frische muntere Tochter des Justizraths auf der Bühne, von deren Existenz der junge Konsul keine Ahnung hatte. Die schöne Tochter einer schönen Mutter stellt diese alsbald in Schatten und mit ihrem Erscheinen ist eigentlich des Stückes weiterer Verlauf und Ausgang schon gegeben. Für den Mangel an Spannung hält die hübsche Charakterzeichnung und die gute Laune schadlos, mit welcher einzelne Scenen durchgeführt sind; gleichwohl verdienen die beiden ersten Akte den Vorzug vor den zwei letzten.

Am Wiener Burgtheater und am Berliner Theater ist ein Schauspiel „Bruder Hans“ von C. Karlweis nicht ohne Beifall zur Aufführung gekommen, ein Lustspiel mit ernsteren Zügen und jener Beimischung von edelmüthiger Gesinnung und edelmüthigen Thaten, welche stets eine rührende Wirkung hervorruft. Junker Hans ist ein brüderlicher Märtyrer, der sich ganz für seinen berühmteren Bruder Paul opfert, ihm jeden Liebesdienst erweist, bei seinen wissenschaftlichen Arbeiten mithilft, sie zum Theil selbst verfaßt und ihm überläßt und zuletzt auch bereit ist, ihm seine Liebe zu opfern. Doch das Mädchen, Martha, ist anderen Sinnes: sie liebt Hans und nicht Paul, macht auch daraus kein Hehl, und als Hans nach Afrika reisen will, hält sie ihn zurück; ja sie giebt eine Arbeit, die dieser für den Bruder gemacht hat, in seinem eigenen Namen bei den Professoren ein, nachdem sie dieselbe vom Schreibtisch Pauls einfach fortgenommen hat. Da die Professuren an dieser ungenannten merkwürdigen Universität gewissermaßen als Preise für Konkurrenzarbeiten vergeben werden, so erhält Hans den Preis, das heißt die Professur; aber Paul ist nicht unglücklich darüber; Martha hat ihm eine Strafpredigt gehalten, ihn noch vor dem letzten Aktschluß bekehrt und gebessert, und er sieht es ruhig mit an, wie sie dem aus dem Dunkel auf einmal ans hellste Licht hervorgezogenen Bruder ihre Hand reicht. Das Stück ist sehr anspruchslos und schlägt hier und dort einen sympathischen warmen Ton an; doch der edle Hans erscheint uns als ein nicht recht glaubwürdiges Naturkind in unserer Gesellschaft, und gegen die Bekehrungen auf der Bühne, durch welche plötzlich ein Charakter umgestülpt wird, darf man wohl berechtigte Bedenken hegen.

Ein Lustspiel mit einem glücklichen Grundgedanken und scharfen satirischen Schlaglichtern, „Die wilde Jagd“ von Ludwig Fulda, ist am Berliner Theater und am Wiener Burgtheater mit Beifall gegeben worden und hat dann ein Rundreisebillet für die deutschen Bühnen erhalten und verwerthet.

Die nervöse Hast in unserem gesellschaftlichen und geschäftlichen Leben, die Hetze, die niemals zur beschaulichen Ruhe und Einkehr kommt und immerfort dem äußeren Erfolg nachjagt, ist besonders in den Salonbildern des ersten Aktes recht überzeugend dargestellt.

Die junge Frau des Malers setzt auch in der Ehe diese „wilde Jagd“ fort, so daß sich das Atelier in einen Salon verwandelt und der Künstler kaum weiß, wohin er flüchten soll. Durch ihre Bekanntschaften verschafft sie dem Gatten eine Auszeichnung, und er ist außer sich, als er erfährt, daß seine Frau dabei die Hand im Spiele hatte. Es kommt indeß alles zu einem wohlmeinenden Abschluß. Ludwig Fulda hat sich durch kleine Sinn- und Spottgedichte und durch gefällige Einakter vortheilhaft eingeführt, der glänzende Einfall, das treffende Schlag- und Stichwort stehen ihm zu Gebote, und das ist für einen Lustspieldichter eine wesentliche Mitgift.

Auch an todtgeborenen Kindern fehlte es in der Saison nicht: das Lustspiel „Wilddiebe“ hat weder an der „Burg“, noch an dem Deutschen Theater in Berlin Erfolg gehabt; die wenig geschickte Nachahmung neufranzösischer Muster und vieles Anstößige, was sie zur Folge hatte, forderten den Widerspruch des Publikums heraus.

Andere ernste und heitere Stücke sind hier und dort aufgetaucht und es muß sich erst zeigen, ob es zukunftslose Nieten waren oder ob sie in der künftigen Saison größere Verbreitung finden und sich auch auf anderen Bühnen bewähren. Auch abgesehen von den „Wilddieben“ haben die deutschen Nachahmer französischer Dichtweise mehrfache Niederlagen zu verzeichnen; hoffentlich schlägt unser Drama immer mehr Wurzeln auf heimischem Boden und der Sinn und Stil unserer großen Meister bleibt in ihm lebendig. Rudolf von Gottschall.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 620. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_620.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)