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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Neben diesem geschichtlichen Schauspiele, welches auf volksthümlicher, wenn auch provinziell beschränkter Grundlage ruht, sind in der vergangenen Saison dramatische Dichtungen zur Aufführung gelangt, welche in ihrer Eigenart beweisen, wie mannigfach das Farbenspiel unserer Talente ist und wie wenig sich auf dem Gebiete der ernsten Dramatik ein durchgreifender Stil gebildet hat.

Von Paul Heyse ist in Berlin ein Schauspiel „Weltuntergang“ gegeben worden, welches von dem Dichter als „Volksstück“ bezeichnet und in Versen von Hans Sachs, beziehungsweise in Faustversen geschrieben worden ist, die nur bisweilen durch regelrecht gebaute Fünffüßler eine Unterbrechung erleiden. Die dramatisirte Anekdote spielt im Mittelalter in einer Stadt am Rhein, welche durch konfessionellen Zwiespalt zerrüttet ist. Ein Komet steht am Himmel, und ein edeldenkender Arzt, auf dessen Weisheit das Volk vertraut, hofft, durch Verkündigung des bevorstehenden Weltuntergangs die Gemüther versöhnlich zu stimmen; doch auf dem Markte sowie im Familienleben hat diese Prophezeiung nicht sogleich die erwartete Wirkung; es lösen sich vielmehr alle Bande und man jubelt und jammert dem hereinbrechenden jüngsten Tage entgegen. Aber schließlich vollzieht sich eine That der Versöhnung: die zwei Züge der Protestanten und Katholiken, die sich unter Leitung ihrer Geistlichen auf dem Markte begegnen, verharren nicht in feindseliger Haltung; sie lösen sich auf und die Genossen von hüben und drüben reichen sich die Hände. Gleichzeitig löst sich versöhnlich der innere Zwist der Familien und zwei Liebesverhältnisse kommen zum Abschluß. Der Handlung fehlt der dramatische Zug; sie zerfällt in Genrebilder, von denen einzelne ganz allerliebst durchgeführt sind, über deren Bedeutung aber auch die ernsteren Liebeshändel nicht hinausgehen. Von den einzelnen Charakteren ist die Jüdin Judith, welche der schwedische Cornet Rochus liebt, am besten gezeichnet; als eine volksthümliche Vogelscheuche erscheint der hochmüthige und feige Sohn des Bürgermeisters, Aegidius. Neben den heiteren Volksbildern enthält das Stück manche salbungsvolle Moral, den Schluß aber bildet der stets preiswürdige Sieg der Duldsamkeit über die gehässige Feindschaft der Andersgläubigen.

Neben diesem genrehaften Kulturbild Heyses, auf welches das verklärende Sonnenlicht neuzeitlicher Humanität fällt, steht die tiefsinnige Traumdichtung Adolf Wilbrandts „Der Meister von Palmyra“, welche am Münchener Hoftheater zur Aufführung gekommen ist, eine Dichtung, die an die Calderons und Grillparzers, „Das Leben ein Traum“, „Der Traum ein Leben“, erinnert, welche uns ebenfalls das Leben und die Welt in traumhafter Beleuchtung zeigen. Doch predigt das Drama von Wilbrandt eine andere Lehre als diese; die jüdisch-christliche Sage vom Ahasveros, der nicht sterben kann, spielt ebenso in die Dichtung herein wie der alte Glaube des Lotosblumenlandes an die Seelenwanderung. „Der Meister von Palmyra“, Apelles, ein tapferer Krieger, der die Wüstenstadt von den Feinden errettet, verabscheut den Tod, „den blutlos finstern Feind der Menschheit“, und der schnöde Tod, der als Pausanias erscheint, bleich und schwarzverhüllt von Kopf zu Fuß, geht ihm aus dem Wege. Im letzten Akte verwandelt sich der Meister von Palmyra in einen Ahasver, der müde von irrer Wanderschaft den Tod anruft; doch diesem Meister gegenüber tritt nun eine weibliche Gestalt, die in immer neuen Menschwerdungen erscheint, zuerst als die Christin Zoë, die als ein Opfer der heidnischen Bewohner von Palmyra fällt, denen sie das Evangelium predigt; dann als die heitere lebenslustige Römerin Phoebe, die sich treulos von ihm wendet, dann als seine Gattin Persica und als sein Enkelsohn Nymphas, der etwas vom Goetheschen Euphorion hat; dann als die geheimnißvolle Zenobia, in der wie ein Blitz die Erinnerung an frühere Erdenwanderung in wechselnden Gestalten aufleuchtet. Und ihr gegenüber erkennt Apelles die Wahrheit, welche zugleich der Sinn der ganzen Dichtung ist:

„Es springt des Lebens Geist von Form zu Form,
Eng ist des Menschen Ich, nur eine kann’s
Von tausend Formen fassen und entfalten.“

Darum soll der Mensch nicht nach der Ewigkeit trachten, im Wechsel soll er blühn, von Form zu Form das enge Ich läutern und verklären … eine Verherrlichung der indischen Seelenwanderung! Es liegt in der Anlage dieses dramatischen Märchens, daß es in verschiedenen Handlungen besteht, die miteinander nur durch die Person des Apelles verknüpft werden. In den Dramen Calderons und Grillparzers herrscht doch immer eine einheitliche Handlung, hier zersplittert sich dieselbe in fünf Einakter. Der Kampf des Heidenthums und Christenthums giebt den bewegten dramatischen Hintergrund her. Gegen den Grundgedanken wird sich manches einwenden lassen. Diese wechselnden Gestalten haben ja kein Bewußtsein ihrer innern Einheit; wie sollen sie der Vollendung entgegenreifen? Auch im Stücke selbst bezeichnet die leichtfertige Phoebe doch keine Stufe des Fortschrittes gegenüber der apostolisch begeisterten Zoë, indeß klingt in das Traummärchen Sinn und Bedeutung mehr herein, als daß ihm eine streng logische Beweiskraft innewohnte – und „Der Meister von Palmyra“ ist das Werk eines echten Dichters, reich an poetischen Schönheiten und an tiefen Gedanken in edler Fassung und von scharfem Gepräge.

Zu diesen deutschen Dichtungen, deren dramatische Form mehr etwas Zufälliges hat, gesellte sich eine ausländische, welche am Berliner Hoftheater Begeisterung und Widerspruch fand, des Norwegers Henrik Ibsen Schauspiel „Die Frau vom Meere“. Berlin hatte seine „Ibsenwoche“, in welcher zur Feier des anwesenden Dichters die Bühnen miteinander wetteiferten, Dramen von ihm zu geben, hier „Nora“, dort „Die Wildente“ auftauchte und vor allem „Die Frau vom Meere“, an der ersten Bühne der Reichshauptstadt aufgeführt, die öffentliche Meinung beschäftigte. Die Schwärmerei des deutschen Publikums für das Ausländische stammt nicht von heute und gestern, auch ist ja das Genie an keine Landes- und Sprachgrenzen gebannt und hat das Recht, überall verherrlicht zu werden: doch ist Henrik Ibsen ein Genie? Seine Anhänger behaupten das; aber nicht im Absonderlichen prägt sich der Genius aus, er hat etwas allgemein Bezwingendes und Hinreißendes. Ibsen zeichnet mit markigen Strichen, er hat Lebenswahrheit im einzelnen; doch die innere Unwahrheit seiner Seelengemälde wird nur von denen geleugnet werden, die sich von der Kühnheit seiner Voraussetzungen und der Sophistik seiner Schlußfolgerungen blenden lassen.

Seine Phantasie hat etwas Träumerisches; aber ihre Gespinste sind wie die kalten Nebelgespinste des Nordlandes, nicht von sonniger Gluth durchleuchtet; sie haben etwas Naßkaltes, das nicht zu erwärmen vermag. Auch in der „Frau vom Meere“ weht ein Hauch dieser naßkalten Romantik. Die Heldin hat einen abenteuerlichen Seelenbund geschlossen mit einem fremden Mann, und zum Zeugniß dessen ihren Ring ins Meer geworfen. Gleichwohl schließt sie später eine bürgerliche Ehe mit einem gewöhnlichen Sterblichen, einem Landarzt seines Zeichens, und diese Ehe wird unglücklich durch die Rückerinnerung der Frau an das Seegespenst, an diesen unbekannten Fremden, den fliegenden Holländer, und durch ihre thörichten Gewissensbisse, daß sie diesem die Treue gebrochen habe. Doch der Spuk gewinnt wieder Leben; der Fremde kehrt in leibhaftiger Gestalt zurück, und der Bezirksarzt stellt es seiner Gattin anheim, ob sie jenem folgen oder treu in ihrer Ehe ausharren wolle. Da entscheidet sie sich für das letztere; das Seegespenst verschwindet im Nebel, die Frau vom Meere ist geheilt durch diese That freier Selbstbestimmung, und die vom alten Spuk erlöste Ehe wird eine glückliche. Die Sehnsucht nach dem Meere, nach der geheimnißvollen Ferne hat einen poetischen Zug, und Ibsens Muse erinnert in diesem Stücke an die deutschen Romantiker und ihre traumselige Dichtweise; aber eine gemüthskranke Heldin, welche die Seelenheilkunde herausfordert, kann nicht die Heldin eines Dramas sein, welches nicht in bloßen Stimmungen aufgehen darf. Es bleibt im Grande nur eine etwas langweilige Krankengeschichte übrig – und in diesem Sinne hat sich auch ein Theil der Berliner Kritik ausgesprochen.

Frischere Meeresluft unter dem heiteren griechischen Himmel weht durch das Trauerspiel „Nausikaa“ von Hermann Schreyer[WS 1], welches am Hoftheater in Berlin zur Aufführung kam und eine freundliche Aufnahme fand. Die Heldin ist jene Homerische Phäakentochter aus der Odyssee, welche Goethe einmal zur Trägerin eines Schauspiels machen wollte, dessen Entwurf noch vorhanden ist; doch zu einer dramatischen Heldin eignet sich Nausikaa nicht: mindestens muß, wenn dies der Fall sein soll, ihr Charakter und ihr Schicksal wesentlich umgedichtet werden, sie muß die Knospe der altgriechischen Naivetät sprengen und ein volleres leidenschaftliches Leben entfalten. We anmuthig ist bei Homer die Abschiedsscene zwischen der Jungfrau und dem göttlichen Dulder, den sie bittet, bei den Seinen ihrer eingedenk zu sein … welch ein Hauch sanfter

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Georg Schreyer
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 619. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_619.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)