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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Madonna! Madonna! Du weißt nicht, was Du sprichst. Denke an Deinen Vater!“ jammerte sie.

„Wenn mein Vater ihn gestern gehört hätte, er würde sagen: ‚Dies ist ein braver Mann, den darfst Du lieben.‘“

„Und wenn Dein Vater vor Dich träte und Dir zuriefe: ‚Felicita! Mein Kind! Um unseres Volkes willen, – um Deines Vaters – um unserer Freunde willen – laß ab von Deinem frevlerischen Thun und vergiß diesen da, der morgen seinen Söldnern auf Deine Brüder, – auf Deinen eigenen Vater zu schießen befehlen wird!‘“

Sie hatte ihre Hand erfaßt; Thränen rannen über ihre Wangen. Langsam senkte Felicita das Haupt, – sie hing an ihrem Vater mit inbrünstiger Verehrung; er war ihr alles, er war ihr Abgott, – sie fühlte in diesem Augenblick, daß sie nie und nimmermehr sich gegen seinen Willen auflehnen könnte, – sie fühlte aber auch, daß sein Verbot ihr Herz brechen würde.

„Mein Vater ist mein Herr,“ sprach sie leise, kaum hörbar. „Ihm bin ich Gehorsam schuldig bis in den Tod – und ihm werde ich gehorchen, komme, was da kommen mag. Vergessen könnte ich den Geliebten aber nicht – und im Kloster, im ewigen Tod würde Felicita ihre Liebe und ihren Gehorsam beweinen.“

Eine Krümmung des Thales hatte den Offizier ihren Blicken entzogen … Jetzt trat er wieder hervor. Sein Auge forschte nach rechts und nach links, an den Villen, welche den Torrente begrenzen, – er suchte wohl, ob sich nicht ein Fenster öffnete, ob nicht ein Zeichen von fernher winkte; – jetzt hielt er dort unten, am Brunnen, bei den Wäscherinnen; – er sprach mit den Mädchen; – sie lachten ihm fröhlich zu; sie zeigten auf die Landhäuser; – wie hätten sie ihm aber den Weg weisen können? – wußte er doch nicht, nach welchem Namen er sich erkundigen sollte! – Nun ritt er weiter; – nun trabte sein Roß, die frische Bergesluft in den offenen Nüstern auffangend, der Klosterkirche zu; – nun kam er an die Gasse, die zu Romeos Hause führte … Wird er den Weg errathen? Wird ihm sein Herz nicht ein Zeichen geben, daß dort, hinter den Persiennen, zwei Augen sehnsüchtig und liebend nach ihm suchen? … Ach! er war vorbeigeritten!

„Nina! Nina! er wird mich niemals finden! Laß mich die Persiennen öffnen! laß mich hinüber zu ihm rufen: ‚Hier bin ich! Ich erwarte Dich! Ich liebe Dich! Komm!‘“

Aber scharf und bestimmt, als treue Hüterin des ihr anvertrauten Schatzes, untersagte es ihr Nina: der Vater würde es verbieten, – und Felicita bestand nicht auf Erfüllung ihres Wunsches; – der Vater hätte es noch weniger erlaubt als Nina, und der Vater war ihr Herr. – Und dennoch! Es war das erstemal in ihrem Leben, daß ihr der Gehorsam so schwer fiel, – das erstemal auch, daß sich die ängstlich schüchterne Frage vor ihr Gewissen wagte, ob es denn etwas gäbe in der Welt, was noch tiefer in das Herz hinunter dringe und das Wollen und Denken noch gewaltiger übermanne als die Verehrung für den Vater.

Eckart war bei der Kirche angelangt. Weiter brauchte er nicht zu wandern: dort hinten im Thale gab es keine Landhäuser mehr, dort lag die leere Wildniß. Die nackten Felsenwände starrten zu dem das Bild scharf abschneidenden letzten Bergesgrat empor, der die Wasserscheide zwischen Messina und der Ebene von Milazzo bildet; tief eingeschnitten lag die finstere Thalmulde vor ihm; schräg nur und schwarze Schlagschatten an das gegenüberliegende Gestein werfend, stahl sich die Sonne in den düstern Bergeskessel; ein tiefes Schweigen lag auf dieser Felseneinsamkeit. Wie ein letztes Ueberbleibsel der lebenden Welt blickte durch die zerbrochenen Fensterscheiben der Kirche das fahle Leuchten des ewigen Lämpchens; der durchsausende Wind setzte die verrostete Kette, an der es vom Gewölbe herunterhing, in eine langsam schaukelnde Bewegung; durch die hohen Fenster glitt das Auge über gewaltige Pfeiler und Wölbungen; im Vorbeihuschen spielte ein Lichtstrahl über moosbedeckte Normannenkreuze, als wollte er das Längstverstorbene zu neuem Leben erwecken.

Eckart lenkte sein Roß an die Langseite des Klosters, wo einige mit festen Holzläden versehene Fenster und ein paar auf den Gesimsen stehende Krüge mit zerbrochenen Henkeln auf einen menschlichen Bewohner hindeuteten.

„Fra Serafino!“ rief der Offizier hinauf; „mich dürstet nach diesem heißen Ritt! Giebt’s ein Glas guten Weines in Deinem Keller?“

Es dauerte eine Weile, bis sich dort oben etwas regte. Endlich zeigte sich in dem schwarzen Rahmen des Fensters, langsam und behutsam, ein Gesicht – ein Gesichtchen eher zu nennen, so seltsam zusammengeschrumpft sah es aus unter seinen unzähligen Falten und Fältchen, mit dem schiefen Munde und der schiefen Nase – und mit den so herzensguten, kindlichen Augen, die an die Augen eines treuen Hundes erinnerten – ein Blick, dem man’s ansah, daß die Seele, die daraus hervorstrahlte, keinem Thier und keinem Menschen ein Leids anzuthun vermochte.

„Wein? ach, Wein?“ antwortete es zu dem Offizier herunter; „Ihr wißt ja, Herr Hauptmann, daß ich die ärmste aller Klosterratten bin!“

„Wohl! wohl! Aber für die Herren Abbati, die am Sonntage hier Messe lesen, hast Du ein besonderes Tröpfchen im Keller, das weiß ich auch.“

Das Mönchlein zauderte; es schaute den Offizier mit seinen scheuen, guten Augen an, als wollte es sagen: „du bist ja der Stärkere und Klügere von uns beiden, ich werde Dir den Wein schon holen müssen; nur wirst Du mich doch zum Lohne nicht verrathen?“

Seine Musterung mußte wohl nicht ungünstig für den Offizier ausgefallen sein, denn er winkte ihm mit verstohlener Gebärde nach der Kirchenthür zu, und als Eckart dort ankam, hörte er schon das Mönchlein aus der finstersten Ecke heraus, als käme die Stimme von dem Schlußstein des Gewölbes herunter:

„Kommt nur die Treppe herauf! Hier oben ist das Zimmer, das die Abbati bewohnen, wenn sie zum Messelesen herauskommen – oder wenn der Erzbischof sie zur Selbstkasteiung herausschickt.“

Als sie am wackeligen Tische vor einer alten Flasche Aetnaweines saßen, gedachte Eckart zum eigentlichen Zwecke seines Besuches überzugehen.

„Giebt es denn überhaupt noch Priester, die in dieser Ruine verweilen?“ fragte er, „und weshalb wird hier Messe gelesen?“

„Ach, Herr Hauptmann, so weltvergessen sind wir doch noch nicht; es leben gute Menschen in den Landhäusern.“

„Landhäuser?“ sagte Eckart, den Verwunderten spielend; „habt Ihr bewohnbare Landhäuser hier?“

„Bewohnbare und bewohnte!“ antwortete mit argloser Selbstgefälligkeit der Mönch, und nun begann er die Namen der Inhaber dieser Villen aufzuzählen; auch Romeos Name kam dabei vor; „aber,“ fügte er hinzu, „Romeo weilt zur Zeit nicht hier; er unternimmt oft Reisen über die Berge.“

„Pflegst Du Umgang mit Romeo?“

„Ach, mich kennen ja alle Leute hier! Der Erzbischof hat mir dies Obdach gewährt und ich bin der Wächter des alten Klosters. Ein gefährlich Amt, wenn im Frühjahr und im Herbst die Torrentefluthen wüthen! Wie von einer Hölle umbraust, liegt unsere arme alte Kirche da während der schaurigen Stürme, schutzlos und einsam. Ja, lange wird sie nicht mehr stehen, denn das wunderthätige Madonnenbild haben sie nach Messina in das Kloster della Scala gebracht. Von den Abbati kennen aber viele den Romeo besser als ich; – sie verkehren oft mit ihm; – seine Villa ist die nächste und Romeo ist ein braver, guter Mann. Auch mit den andern Nachbarn verkehren die Herren Abbati gern, – mit Santi de Pasquale besonders – der eine gar schöne Tochter hat – und die Herren Abbati lieben ja auch schöne Frauengesellschaft.“

Er lächelte dazu und schaute zu dem Offizier auf in seiner kindlichen Weise, so daß Eckart nicht wußte, ob die Bemerkung harmlos oder satirisch gemeint war.

„Wie alt mag wohl Santi de Pasquales Tochter sein?“ fragte er.

„Ach, ein schönes Kind! Eccellenza kennen sie gewiß. Achtzehn Jahre mag sie zählen. Sie kommt zuweilen mit ihrer Mutter in die Kirche.“

„Ihr Vater kennt wohl auch die Mönche von San Placido?“

„Herr Hauptmann haben recht! Man erzählte erst in diesen Tagen, daß er den Mönchen in San Placido im letzten Jahre einige tausend Piaster für ihr Oel und ihren Wein gelöst habe und dabei andere tausend für sich gewonnen.“

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