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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Des Abends um 7 Uhr fand in dem herrlich und mit großer Pracht geschmückten Weißen Saale des Schlosses das Galadiner zu Ehren des Kaisers Franz Joseph statt, an welchem die österreichischen und deutschen höchsten Würdenträger der Diplomatie und des Militärs theilnahmen. Hier tauschten die beiden Herrscher jene hochbedeutenden Freundschaftsbeweise aus, welche lauten Widerhall in ganz Europa geweckt und das Vertrauen in die Erhaltung des Friedens aufs neue gestärkt haben.

Der folgende Tag, Mittwoch der 14. August, war verschiedenen kleineren, mehr familiären Feierlichkeiten gewidmet, und am 15. August verließ der Kaiser Franz Joseph die deutsche Residenz, wo er als Freund und Bundesgenosse unseres Kaisers und als „Herrscher des mächtigen Nachbarreiches, mit welchem uns geschichtliche Traditionen, gemeinsame Interessen und gleiche Liebe zum Frieden verbinden,“ aufrichtig und herzlich von der gesammten Bevölkerung begrüßt worden war.




Gold-Aninia.

Eine Erzählung aus dem Engadin. Von Ernst Pasqué.
(Fortsetzung).


Als Madulani am andern Morgen, dem ersten Weihnachtstage, sich zum Kirchgange vorbereitete, sagte er in seiner finstern Weise mit abgewendetem Antlitz zu seinem Weibe:

„Ich weiß, wo Du gestern abend warst, welche Gesellschaft Dir lieber war – als die Deines Mannes.“

„Ich war dort, wo ich hingehöre,“ entgegnete Frau Barbla ruhig, „Du hast mich selbst dorthin getrieben. Fängst Du an, die Leere um Dich zu spüren? Um so besser für Dich! Wäre ich so hart wie Du, empfände ich kein Mitleid mir Dir, so wärest Du tagaus, tagein, immerfort allein, denn die Bettlerin bliebe bei denen, die Du elend und zu Bettlern gemacht hast. – Gian!“ fuhr sie plötzlich mit weicher Stimme fort, sich ihm nähernd und die Hand auf seine Schulter legend, „gehe in Dich und beuge Dich einem Willen, der höher ist als der Deinige! Bedenke, es ist auch Dein Kind, und bald – bald naht ihr die schwerste Stunde ihres jungen Lebens. Gehe in Dich, Gian, und verzeihe – es möchte sonst vielleicht auf einmal zu spät dazu sein!“

Madulani hatte ihre Hand abgeschüttelt und war an das Fenster getreten, wo er, immer noch das Antlitz von seinem Weibe abgekehrt, stehen blieb. Er hatte die Zähne zusammengebissen und blickte unverwandt in den Schnee hinaus. Frau Barbla stand erwartungsvoll. Plötzlich lachte er höhnisch auf und rief, ohne sich dabei nach ihr umzusehen:

„Haha! Du meinst wohl gar, ich müßte – sie um Verzeihung bitten? Das wäre Dir schon recht, aber Du bist im Irrthum. Ich will Dir sagen, wie ich denke, damit all diese Reden ein für allemal aufhören. Was Du für sie – Deine Tochter gethan hast, ich wußte es vom ersten Augenblick an, doch ich wollte es nicht wissen – merke dies wohl! – ebenso wenig, wie ich sehen und hören werde, was Du weiter noch für sie thun wirst. Es mag drum sein, in des – –“ Die letzten bösen Worte gingen in einem häßlichen Zischen unter, doch kehrte er sich nun auch seinem Weibe zu. Wieder flammte sein Auge auf und seine Stimme klang hart und rauh. „Was aber ihn betrifft, an den ich nicht denken darf, ohne daß mich Zorn und Wuth übermannen, so möge er sich hüten! Ich will ihn nicht mehr im Dorfe sehen! – auch dies merke Dir! Dem Büttel werde ich befehlen, ihn zu fassen, wo er ihn auch in den Gassen findet. Wird er im Dorfe ergriffen, lasse ich, der Cavig, ihn gebunden über die Grenze des Bündnerlandes bringen, und zeigt er sich dann noch einmal in Surley, so ist er vogelfrei, und ich schieße ihn nieder wie einen räudigen Hund. Und nun – Gott befohlen!“

Damit nahm Madulani seinen Hut und verließ dröhnenden Schrittes Stube und Haus, um als Cavig der Gemeinde mit gutem Beispiel voranzugehen und an diesem hohen Feiertage dem Gottesdienste anzuwohnen.

Bei Beginn der Nacht fand der arme Beppo das bewußte Fensterchen erleuchtet, doch drinnen im Hause vorerst nur Mutter Barbla, die ihm bedeutete, daß Aninia nicht wohl sei und er sich rasch wieder entfernen müsse. Er fand sein Weib zu Bette liegend, und nur wenige Worte wechselten beide zusammen, dann gaben sie sich den Abschiedskuß. Schweren Herzens kehrte Beppo zu Mutter Barbla zurück, die ihn hastig mit sich fort aus dem Hause zog und den Weg nach dem Crestalta einschlug. Auf der ersten Höhe unter den Arven angelangt, hielt sie inne, theilte dem Horchenden die neuen, entsetzlichen Drohungen ihres Mannes mit und beschwor ihn, vor der Hand dem Dorfe und der Wohnstätte Aninias fern zu bleiben. Nach der Geburt des Kindes, die bald erfolgen würde, werde sich gewiß alles zum Besseren wenden, so meinte sie tröstend. Sie selbst werde ihm Nachricht über Aninia bringen oder durch Clo senden und werde ihn benachrichtigen, sobald es ohne zu große Gefahr anginge, daß er des Abends zuweilen sein Weib besuche. Sie drängte ihn hastig zum Gehen und wandte sich dann selbst nach dem Dorf zurück.

Stumm seinen Gedanken nachhängend, schritt Beppo die Höhe weiter hinan. Endlich blieb er stehen und sagte laut:

„– Mutter Barbla täuscht sich! Der Cavig hat’s ja geschworen: er wird nur dann verzeihen, wenn er ein Bettler geworden ist – und ein Bettler soll er werden!“


10. Das Surleywasser.

Von Stunde an ward Beppo von einer bestimmten Vorstellung beherrscht, die sein enges Denken ausfüllte und seinen heftigen Willen beherrschte: der reiche und grausame Madulani mußte ein Bettler werden, durch ihn, Beppo, und mit Hilfe des Surleywassers! Das stand ihm jetzt so fest wie die Felsen rings umher, er verwandte seine ganze Denkkraft nur noch darauf, Mittel und Wege dazu ausfindig zu machen. Hatte er am Morgen Clo oder Mutter Barbla gesehen, Nachricht von Aninia empfangen, so verbrachte er den ganzen Tag bis zur nächtlichen Dämmerung in der Fuorcla da Surley, dem Wildbach nachspürend, wie er die Kraft der Fluthen steigern, sie die rechten Wege leiten könnte, damit sie als verheerender Strom über des Verhaßten Besitzthum hereinbrächen. Vor den Einzelheiten eines solchen Zerstörungswerkes würde Beppo sicher zurückgeschaudert sein, es fiel ihm aber gar nicht ein, sie sich überhaupt vorzustellen, ihn beherrschte nur der eine Gedanke: „Madulanis Haus muß der Erde gleich gemacht, sein Vieh vernichtet werden, daß er arm wird wie ich!“ und in wahnsinniger Freude streckte Beppo die Arme empor und flog dann in wilden Sätzen über die Steinblöcke hin, dem Lauf des Wassers nach. Er lernte ihn bald in all seinen Windungen kennen, hoch oben von der Fuorcla an, wo der Wildbach am Fuße des Mortelgletschers entsprang, bis dort, wo er in der Thalsohle auslief; er wußte die Anzahl der großen Felsblöcke, die in seinem Wege lagen und die, durch die Macht des Wassers hinuntergeschwemmt, das ganze Dorf vom Erdboden hätten wegreißen müssen; er hatte ferner – und dies war das Gefährlichste in der Hand eines haltlosen und bis zum Wahnsinn aufgeregten Menschen wie Beppo – die Stelle entdeckt, wo im Frühjahr die Hauptmasse des Gletscherwassers einen Seitenabfluß fand, der in raschem Fall in den Silvaplanaer See mündete. Es war eine verhältnißmäßig schmale Felsenspalte in der schroffen Wand der Fuorcla, die er so oft und schon als Knabe mit Aninia hinabgeklettert war. Vom Boden auf sich langsam verbreiternd, wurde der schluchtartige Riß bald zu einer weiten Rinne, die jäh hinab in die Tiefe führte. Wurde dieser Ausfluß abgeschnitten, der Felsenspalt geschlossen, in irgend einer Weise fest verstopft, so mußte sich im Frühjahr hier eine große Wassermasse ansammeln, die den zu Thal fließenden Bach in einen reißenden Strom verwandeln konnte, der, an dem Gehöft des Cavigs vorbeifließend, gar wohl imstande war, das geplante Zerstörungswerk zu vollenden.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 607. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_607.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)