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verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

spähte Beppo nun unverdrossen nach einem der letzten Häuser hin, das sich, etwas entfernt von den übrigen Wohnungen, fast an die Felswand lehnte. Es war die ärmliche Feuerstelle der Maria Büssin, welche jetzt auch Aninia, das Weib Beppos, beherbergte. Der Abenddämmerung war rasch die Nacht gefolgt, und unheimlich leuchteten die schneebedeckten Dächer der kleineren und größeren Wohnstätten des Dorfes durch das tiefe Dunkel. Die einzelnen Lichter erschienen wie röthliche Fünkchen, die bald allerwärts aufblitzten, nur ein Haus, das der Büssin, blieb ohne irgend einen helleren Schein, und auf einen solchen schien Beppo zu warten, denn er bewegte sich nicht von seinem Platz und kehrte den Blick nicht von der dunklen schneebedeckten Steinmasse ab.

Wohl eine volle Stunde mochte er so gestanden haben, seine Glieder waren ihm durch die Kälte fast erstarrt und das Herz brannte ihm in wildem Schmerz, daß er so ausgestoßen und elend vor der Hütte seines angetrauten Weibes harren mußte. Das Lichtchen, das verabredete Zeichen, daß er den Eintritt wagen konnte, wollte nicht erscheinen, und doch fühlte er, daß die Kraft ihn zu verlassen drohte, daß er sich kaum mehr aufrecht erhalten konnte. „Es muß etwas Besonderes vorgegangen sein, daß ihre Stube dunkel bleibt, und jetzt ist die Stunde vorüber. – Ich muß weiter – bleibe ich länger hier, werde ich erfrieren.“

So sagte er sich und setzte dann seinen Weg fort. Bald darauf mußte er das Surleywasser überschreiten, und nochmals hemmte er seinen Fuß, den finstern Blick auf eine größere Wohnstätte gerichtet, die mit ihren Ställen und Stadeln breit an dem Ufer des Baches lag. Es war das Gehöft Madulanis. – „Und das Wasser fließt ihm so nahe!“ murmelte Beppo vor sich hin. „Schon oft wird es über seine Ufer getreten sein und hat ihm doch noch niemals Schaden gethan – die Felsblöcke müßte es ihm zuführen!“ Er stürmte, sich schüttelnd, den Arven des Crestaltas entgegen. Hier stieg Beppo auf einem von ihm getretenen Pfad zwischen den Stämmen hindurch die Höhe hinan und gelangte auf weitem Umwege zu den Steintrümmern und dem Gewölbe, das ihm als Wohn- und Schlafstelle diente. Er warf sich angekleidet, wie er war, auf sein Lager, das reichlich mit Fellen als Unterlage und Decken versehen war. Aber der Schlaf wollte diesen Abend nicht über seine müden Augen kommen. Unablässig wühlten die Gedanken in seinem Gehirn weiter, und als er gegen Morgen endlich in einen unruhigen Schlummer fiel, verwandelten sie sich in schreckliche Traumbilder, aus denen er mit einem wilden Schrei empor fuhr. – –

Beppo war nicht so rasch, wie er gehofft und gewollt, aus den Bergamasker Bergen nach dem Engadin zurückgekehrt. War es die ununterbrochene übergroße Anstrengung bei dem schleunigen Heimtrieb seiner Schafe, oder war es Unvorsichtigkeit im Trinken des eiskalten Bergwassers gewesen – kaum daheim, auf dem gräflichen Hofe zu Branzi, angelangt, verfiel der Aermste in ein Fieber, dem er wohl erlegen wäre, hätte er nicht durch die Güte des Grafen beste Unterkunft und Pflege gefunden. Dennoch dauerte es mehrere Wochen, ehe er an die Rückreise denken konnte, und als er sich endlich kräftig genug fühlte, den Wanderstab zu ergreifen, stand der Winter vor der Thür. Jetzt war kein Halten mehr; auch mußte er nun so schnell als möglich fort, wollte er noch in diesem Jahre den Bernina passiren, was schon jetzt, kam ihm nicht ein glücklicher Zufall zu Hilfe, nur noch mit äußerster Anstrengung möglich war. Und der arme, sich in Sehnsucht nach seinem Weibe verzehrende Beppo hatte Glück. Auf dem einzigen zu dieser Jahreszeit noch möglichen Umwege über Edolo war er, jetzt schon zum Tod erschöpft, in Tirano, dann bei der großen Wallfahrtskirche der Madonna von Tirano angelangt. Hier fand er eine Anzahl Handelsleute, die mit ihren auf Schlitten gepackten Waaren noch über den Bernina und weiter, theils über den Julier nach dem Bodensee und Deutschland, theils, dem Inn folgend, nach Tirol und Oesterreich gelangen wollten. Ihnen schloß er sich an, und nach kurzer Rast ging es hoffnungsfreudiger und fröhlicher als bisher weiter. Mancherlei Fährnisse hatte Beppo zu bestehen, im Verein mit den Händlern und Fuhrleuten oftmals hart zu arbeiten und zu schaufeln, um an den verschneitesten Stellen eine Bahn zu gewinnen. Doch es gelang, und wenn die Reise auch länger als eine Woche gedauert hatte, so war der ganze Schlittenzug doch ohne nennenswerthen Unfall in dem Dorfe Samaden angelangt. Hier nahm Beppo Abschied von seinen bisherigen Reisegefährten und eilte schneller, als die Zugthiere mit ihren Schlitten dies vermochten, nach Campfèr, dann auf wohlbekannten Pfaden nach dem Crestalta – um dort alles stumm und öde zu finden. Ein Schrecken schüttelte den armen Menschen, daß er glaubte, vergehen zu müssen, doch gewaltsam, mit einer fieberhaften Energie raffte er sich auf und eilte, das Verbot, den Zorn des Cavigs nicht achtend, ins Dorf und nach dem Hause der Büssin, wo sein Leid ein ebenso plötzliches wie glückliches Ende fand. Aninia hielt er wieder in seinen Armen und erfuhr alles, was geschehen, den Tod des guten Mönches und die neue grausame Weigerung Madulanis, seinem einzigen Kinde zu verzeihen. Vorerst machte sich Beppo daraus nicht viel, er war in diesem Augenblick des Wiedersehens zu glücklich, um viel an die Zukunft zu denken.

Nachdem der erste Freudenrausch vorüber war, trat Mutter Barbla zu dem Paare, und gleich ernst wie besorgt meinte sie, daß Beppo vor der Hand noch nicht bei seinem Weibe wohnen dürfe. Madulani habe als Cavig von Surley das Recht, ihm den Aufenthalt im Dorfe zu wehren, und um seinen Zorn nicht unnöthigerweise zu reizen, nicht auch eine letzte Hoffnung zu zerstören, solle Beppo wie früher auf dem Crestalta hausen und erst am Abend, wenn die Nacht gekommen und ein Lichtchen in der den Bergen zugekehrten Kammer zu schauen sei, sich leise und unbemerkt in das Haus zu seiner Aninia stehlen. So wurde es am ersten Tage des Wiedersehens verabredet und auch für die Folge gehalten. – –

Oktober war’s, als Beppo nach Surley zurückkehrte. Das alte Jahr ging seinem Ende entgegen, als den Einsamen auf der Surley-Alp, die er trotz Schnee und Eis fast täglich besuchte, jene gefährlichen Gedanken überkamen; als er in der Nacht seit Wochen zum erstenmal kein Lichtchen in dem kleinen Fensterchen erblickte und dann im Schlafe so seltsame, entsetzliche Bilder schaute.

Am Abend des folgenden Tages schien es, als ob sich dies vergebliche Harren in der erstarrenden Kälte für den armen Beppo wiederholen sollte, denn auch jetzt blieb das Fensterchen dunkel, während heute fast alle Wohnhäuser des Dorfes mit nur vereinzelten Ausnahmen sich ganz ungewöhnlich erhellt fanden. Was hatte dies zu bedeuten, Lichtfülle überall, und nur dies eine Haus tiefdunkel? Beppo sann grübelnd darüber nach. Da trat plötzlich eine Gestalt an ihn heran, die er sofort als die des langen Clo erkannte.

„Folge mir!“ flüsterte dieser dem freudig Ueberraschten zu. „Doch vorsichtig, denn der Cavig ist allein zu Hause und es könnte ihn wohl gelüsten, einen Gang durchs Dorf zu machen.“ Damit zog er ihn in einer Richtung fort, welche der nach dem Hause seiner Mutter gerade entgegengesetzt war.

„Wohin führst Du mich – und wo ist Aninia, was ist mit ihr geschehen?“ fragte Beppo hastig.

„In mein neues Heim bei der alten Cadruvi führe ich Dich – auf Umwegen, denn an dem Hause Madulanis dürfen wir nicht vorbei. Dort wirst Du Aninia und die Frauen finden. Armer Beppo!“ fuhr er mitleidig fort, „hast ganz vergessen, daß heute der heilige Weihnachtsabend ist.“

Nachdem sie an manchem Hause vorübergegangen waren, in dessen Innerem helle Lichtchen funkelten, dann das Surleywasser auf einzelnen hineingeworfenen Steinen überschritten hatten, langten sie bei dem Hause der Cadruvi, der Mutter von Clos Frau, an, und vorsichtig führte Clo den Beppo durch den angebauten dunklen Stall ins Haus und in die Vorrathskammer. Auch hier war es tiefdunkel, doch hörte man nun deutlich einen leisen frommen Gesang von Frauenstimmen. Da stieß Clo eine Thür auf, und von dem freundlich hellen Lichtschimmer fast geblendet, von dem überraschenden Anblick, der ihm wurde, wie gebannt, blieb Beppo, den Filzhut in den gefalteten Händen, auf der Schwelle stehen.

Auf dem sauber gedeckten Tische stand ein kleines, etwa zwei Fuß hohes Rothtannenstämmchen, auf dessen grünen Aesten sieben Lichtchen brannten. Daneben lag auf der einen Seite ein großes, mit Birnen gefülltes Roggenbrot, die Festspeise der romanischen Bewohner des Hochalpenthals, und auf der andern ein Berg von feinen Schnitten des köstlichen gedörrten Fleisches. Um den Tisch, auf einer Bank und auf Schemeln, von denen zwei leer waren, saßen vier Frauen: die Hausfrau, ein altes zusammengeschrumpftes Mütterchen, Frau Barbla, Staschia, die Frau des Clo, und Aninia. Leise, in feierlich frommer Weise sangen sie ein altes einfaches Weihnachtslied. Der Thür gegenüber, in der Beppo

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