Seite:Die Gartenlaube (1889) 583.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

unwillig scharfem Tone dem Offizier hinwarf: „Einem Schweizer soll eine Sicilianerin keinen Dank schulden!“ und mit gebieterischer Gebärde ihre Hand in die seine fassend, zog er die Halbwiderstrebende in eine Seitengasse. An der Ecke wandte sie sich um; ihr strahlender Blick hatte wie im Fluge sein Auge wieder getroffen, dieser Blick, so warm, so weich, so kindlich rein und doch so tapfer und so sicher, – wie er in seinem ganzen Leben noch niemals einen ähnlichen erschaut! Sie hob die Hand zu ihren Lippen, als wollte sie ihm von weitem noch ihren stummen Dank zuwerfen, und dann war das Bild entschwunden, entschwunden auf Nimmerwiedersehen! Denn vergeblich waren Eckarts Nachforschungen nach dem wunderbaren Mädchen geblieben, und nirgends, nirgends hatte er die Spur der Verlorenen wiederzufinden vermocht. In seinem Herzen haftete aber jene Erscheinung, und heute noch war es ihm, als fühlte er wie damals die sonnige Wärme, die aus ihrem Auge sich durch sein ganzes Wesen ergoß. Sinnend ließ Eckart seinem Rosse die Zügel und langsamen Schrittes zog er weiter, als gäbe es weder Gräfin noch moschusduftendes Stelldichein, – und ganz in sein heimliches Denken versunken, ritt er weiter … Und wer weiß? vielleicht würde er sie dort draußen wieder finden, dort in jenem Kloster, zu dem die ganze Stadt heute hinausgezogen war, alt und jung, Adelige und Bürgerliche, zum altberühmten Volksfeste des Schutzpatrons von San Placido!


2.

In hellen Haufen umlagerte das lustige Völkchen den inmitten eines Orangenhaines gelegenen mittelalterlichen Bau, ein massives, drei Stockwerke hohes Quadrat, mehr Festung als Kloster, mit weiten, auf breite Terrassen mündenden Erkerfenstern und mit weithin vom Meere aus sichtbarer, im Sonnenschein glänzender Kuppel. Die dienstfertigen Mönche halfen bereitwillig den Leutchen ihr ländliches Mahl zubereiten und versorgten die nimmersatte Menge mit Feigen und Orangen und mit seinem zum Klosterfeste eigens gebackenen Zuckerwerk; eine besondere Freude aber war es, zu sehen, wie sie schmunzelnden Mundes die mit duftendem schwarzrothen Weine gefüllten, rundbäuchigen Fiasconi ohn’ Unterlaß durch die Klosterpforte unter die Hunderte nach dem süßen Safte Begehrenden vertheilten: „Trinkt nur, Brüder! Dieselbe Gesundheit bringen wir ja alle aus, und derselbe Klang ertönt von Euren und von unsern Gläsern, wenn wir verständnißvoll anstoßen!“

Alle da draußen verstanden, was die Mönche mit diesen und ähnlichen räthselhaften Worten sagen wollten, und alle dort drinnen verstanden die lustigen Zecher, wenn diese den Becher erhoben und mit zwinkerndem Auge, ohne ein Wort zu sagen, in einem Zuge leerten. Keiner ließ eine Silbe von dem Geheimniß verlauten, dessen alle Herzen voll waren, aber ein jeder wußte, daß er in dem andern einen treuen Bundesgenossen hatte. Nicht das Klosterfest allein war es ja, welches das lebensfrohe Völkchen heute beschäftigte; – dort oben, in einer versteckten Klosterzelle – das wußte ein jeder, und das sagte aber keiner – dort saßen die Anführer des Volkes beisammen, die „Capo popoli“, wie sie im Volksmunde genannt wurden, und beriethen unter einander die kommenden Ereignisse; und an das, was jene dort oben trieben, dachten hier unten alle, Mann und Weib, alt und jung.

In allgemeinen, unverfänglichen, aber in ihrer Doppelsinnigkeit oder scheinbaren Harmlosigkeit jedem Sicilianer verständlichen Redewendungen theilte man sich von einer Gruppe, von einem Tisch zum andern die Nachrichten mit: „Romeo, der Tischlermeister aus Messina, kam heute früh schon herausgefahren; – seine Tochter, die schöne Felicita wohnt zum erstenmal einem Klosterfeste bei.“

„Schöneren Festen wird sie wohl nächstens beiwohnen.“

„Und wird sich freuen! Denn sie ist brav wie ihr Vater.“

„Habt Ihr Romeos Gevatter, den alten Salvatore Merlo gesehen?“

„Er kam – aber ohne seinen Sohn.“

„Weiß schon! Antonino Merlo weilt seit einer Woche in Taormina; er baut sich eine Mühle im Thal; gutes Mehl wird das dortige Wasser mahlen.“

„Man sagt ja, er werde Romeos Tochter heimführen.“

„Das sagt nur er und sein Vater, der alte Merlo; er will es mit Felicitas Mutter vor ihrem Tode ausgemacht haben, und nun sollen die Kinder den Willen der Todten ausführen! Aber Romeo huldigt diesen alten Gebräuchen nicht, und Felicitas Herz ist frei.“

„Romeo trifft immer das Richtige! Er ist ein braver Mann, der es gut meint mit seinem Kind – und mit Sicilien!“

„Aus Palermo langten gestern abend zwei Mönche an; sie brachten dem Kloster ein neues Heiligenbild.“

„Aus Erz gegossen? – wäre besser als von Gold!“

„Welches Kloster schickte sie?“

„La Gancia!“[1]

„Sicilianische Vesperfeier!“

„Nehmt Euch in acht, Nachbar!“ raunte jetzt einer dem neben ihm Sitzenden zu; „da kommt einer, der zu feine Ohren und zu scharfe Augen hat. – Guten Morgen, Don Federigo! macht Ihr Geschäfte hier oben?“

Der Angeredete, ein hagerer Mann mit einem von tausend Fältchen spinnwebenartig überzogenen Gesichte, antwortete über die Achsel, mit fremdem, augenscheinlich deutschem Accent: „Um meine Geschäfte braucht Ihr Euch nicht zu kümmern! Wünsche Euch nur, daß die Euren nicht gar zu schlecht ausfallen mögen!“

„Guten Morgen, Herr Lerche!“ riefen von weitem, halb spottend, einige unter den Italienern verlorene Deutsche, und zu ihnen wandte sich nun langsamen Schrittes der in seinen zu langen und zu weiten Kleidern herumschlotternde Don Federigo, indem ein ironisches Lächeln um seine Mundwinkel spielte.

„Don Federigo? Nachbar, warum sagtet Ihr denn, daß man sich vor ihm in acht nehmen solle? Don Federigo ist ja unser Freund; er steht auf dem besten Fuße mit Salvatore Merlo und durch ihn mit allen geheimen Gesellschaften – ist ja selber mit in der Maffia!“[2]

„Mag sein! mag sein!“ erwiderte der Angeredete, „steht auf bestem Fuße auch mit dem Gouverneur und den Neapolitanern! Aller Menschen Freund ist eines jeden einzelnen Feind!“

So flogen die Reden von einem Tische zum andern, kurz, in anscheinend harmloser, für die Eingeweihten aber inhaltsschwerer Weise.

Fern von dem Getriebe, in einer abgelegenen Ecke des Orangengartens, hatte sich eine kleine, aristokratische Gruppe zusammengefunden. Nicht der gemeine Klosterwein, sondern perlender Champagner schäumte in den hochgeschweiften, mit dem gräflichen Wappen der Cellamare geschmückten Gläsern. Um den mit feinen Speisen beladenen Tisch bewegte sich in würdevoll vertraulicher Gemessenheit ein betreßter Diener. Drei Plätze nur waren besetzt; der vierte Stuhl stand noch leer – und leicht konnte man aus dem nervösen Mienenspiel der Gräfin ersehen, daß dieser leere Stuhl allein sie beschäftigte. Es war wohl auch das erste Mal, daß eine von ihr ergangene Einladung eine solche Erwiderung gefunden hatte. Wo mochte er geblieben sein? – und kein Wort der Entschuldigung! – kein Wort des Dankes! – Schwerer noch ertrug die Gräfin diese Kränkung, weil sie sich nicht verhehlen konnte, daß von allen Kavalieren, welche die trotz ihrer achtunddreißig Jahre noch viel umworbene Schöne umflatterten, keiner sich mit solcher Gewalt ihrer Sinne bemächtigt – keiner aber auch mit solch unbezwingbarer Kühle ihren Künsten Trotz geboten hatte. Was war das? Sollte sie, die ob ihrer Siege stolze Gräfin von Cellamare, die Waffen vor der Sprödigkeit dieses Schweizers strecken? War sie nicht mehr die unwiderstehliche, schönste Frau Siciliens? Wie ein leises, aber desto fühlbareres Mahnen an der Jahre unerbittliches unaufhaltsames Walten stellte sich diese unausgesprochene, aber nicht abzuweisende Frage vor ihren Geist.

Ein drückendes Schweigen hatte sich über die kleine Gesellschaft gelagert. Mit geschäftigem Finger löste der Abbate Scaglione Mandeln aus ihrer Schale; in blitzartigem Aufzwinkern ließ er den forschenden Blick auf seine Nachbarin und dann wieder zu seinem Teller zurückfliegen; der Graf hatte sich längst in seinem Stuhle zurückgelehnt und schlief mit verschränkten Händen, als gäbe es weder Gräfin, noch schweizer Offizier.

„Sollte ihm ein Unfall zugestoßen sein?“ fuhr die Gräfin plötzlich, zu dem Abbate gewendet, auf.

„Ach, gnädigste Gebieterin,“ erwiderte der Abbate, der wohl die Frage auf seinen nächsten Nachbar bezog, „er ist ja immer so! Wer die Nacht bis zum Morgengrauen bei Spiel und Wein verbracht hat, dem kann man wohl die Siesta gönnen!“


  1. Das Kloster La Gancia stand von jeher an der Spitze der sicilianischen Verschwörungen.
  2. Politischer, damals ganz Sicilien beherrschender Geheimbund, der auch mit den Briganten in Verbindung stand.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 583. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_583.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)