Seite:Die Gartenlaube (1889) 559.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Konrad schüttelte den Kopf. „Das sind Einbildungen, Miß Sikes,“ sagte er. „Ich habe derartigen Versuchen in meiner Praxis beigewohnt. Man hat den Kranken oft unter großen Opfern das von ihnen sehnlichst Herbeigewünschte verschafft, und der Erfolg ist ein nur ganz vorübergehender gewesen. – So würde es auch bei Magdalene sein. Da sie eben wirklich geistig krank ist, würde sie ihn im Augenblick vielleicht erkennen, aber bald darauf zu ihrer Wahnvorstellung zurückkehren.“

„Sie wissen nicht, wie übermächtig das Gefühl für den Elenden in ihr ist,“ sagte Miß Sikes leise. „Es gehört ja eben mit zu ihrem Wahn.“

Konrad hatte sinnend seinen alten Platz wieder eingenommen, mit dem Gedanken beschäftigt, wie der einst so Vielversprechende seinem jetzigen Ansinnen nach heruntergekommen sein mußte. Was es wohl für günstige Aussichten sein mochten, die ihn zu einem so unvermutheten Wiederauftauchen veranlassen konnten? Eine reiche Heirath mit irgend einer heirathslustigen vermögenden Witwe aus niedriger Gesellschaftsschicht? – er malte sich noch andere Möglichkeiten aus, eine erniedrigender für den einstigen Freund als die andere.

„Würden Sie uns Ihren juristischen Rath geben, Mr. Herrendörfer?“ fragte da Miß Sikes zaghaft.

„Nein,“ sagte er hart, „aus Gründen, die Sie achten müssen. Ich will Ihnen gestehen, Miß Sikes, daß mir die Auffrischung dieser alten Geschichte, an der ich recht schwer getragen habe, wenig Glück für meine Angelegenheiten gebracht hat. Nun gar noch selbstthätig einzugreifen, verbietet mir die Rücksicht auf mich und andere. Ich will Ihnen aufrichtig sagen, liebes Fräulein“ – sein Ton wurde weicher und mit unruhigem Blick streifte er das thränenüberströmte Gesicht des alten Fräuleins und dann die Thür, durch die neue abgebrochene Worte in schmelzenden, zärtlichen Tönen drangen, – „daß es mir sehr schmerzlich ist, was die Arme und Sie getroffen hat, – so sehr, daß es auf Augenblicke mein ganzes Denken und Empfinden ins Schwanken gebracht hat. Aber darum noch einmal eine Rolle in dem Leben dieser Frau spielen, noch dazu die des berathenden Freundes, – das kann ich nicht, wenn ich nicht das, was ich vom Leben noch für mich erwarte, aufs Spiel setzen will. Und das sind innere Bedenken,“ fuhr er in anderem Ton fort, „vergessen Sie nicht die Bedingungen, die mir eine juristische Beihilfe in diesem Fall auch äußerlich unmöglich machen, meine sehr angestrengte Thätigkeit in Berlin in erster Reihe –“

Miß Sikes sah ihn rathlos und flehend an.

„Verzeihen Sie mir! In meiner Besorgniß um meinen Schützling habe ich es nicht überlegt, wie taktlos meine Bitte an Sie war. Sie kamen gut und freundlich zu mir und schienen mir wie ein Retter in der Noth, von der Vorsehung geschickt. Ich bin hier sehr fremd geblieben, Magdalenens wegen, und die alte Zeit, die doch manchen Sonnenblick hatte, schien mir mit Ihnen gekommen. Ich war verblendet, aber was soll ich thun?“

„Suchen Sie mit ihm zu unterhandeln, aber ohne Nachgiebigkeit. Sie sind hoffentlich im Besitz seiner Briefe von damals, die sein Unrecht entschieden nachweisen. – Wenn es Ihnen angebracht scheint, bieten Sie ihm Geld. Ich würde zu einem Beitrage in Betracht der alten Freundschaft, die einst meine Eltern mit den Langendorfs verband, bereit sein, natürlich bis zu einer gewissen Grenze und ohne daß der – Schnellmaler davon weiß. Geht er darauf nicht ein, nun, dann müssen Sie einen tüchtigen Juristen zu Rathe ziehen und das Unvermeidliche eben tragen, arme Miß Sikes. Vielleicht läßt sich ein Ausweg finden, eine persönliche Zusammenkunft zu vermeiden. – Wie gesagt, zu einem Geldbeitrage bin ich bereit.“

Miß Sikes erröthete.

„Vielleicht geht es nicht über meine Kräfte, – ich hoffe bestimmt, daß meine kleinen Ersparnisse, – und ich kann gut auch noch einige Stunden mehr geben, – ich danke Ihnen, Sir,“ sagte sie verlegen und ablehnend. „Nun Sie mir einen Weg angegeben haben, ist mir alles etwas klarer geworden. Es war nur der erste Schreck, der mich Sie hineinziehen ließ. Nochmals, vergeben Sie mir!“

Das alte, eckige, vergrämte Gesicht trug in diesem Augenblick einen eigenthümlich verschönenden Ausdruck, der Konrad ans Herz griff. Er kam sich selbst erbärmlich, selbstsüchtig und klein vor gegen die schlichte Aufopferung der alten Lehrerin.

Er zögerte, Abschied zu nehmen, – ihm war bedrückt und ängstlich zu Muth. Er würde gewiß immer mit dem peinlichen Gefühl, eine Unterlassungssünde begangen zu haben, an diese Stunde zurückdenken, sagte er sich, aber was sollte, was konnte er nur thun?

Miß Sikes sah stumm und traurig vor sich hin, der Papagei im Nebenzimmer schrie, dazwischen hörte man ein gedämpftes wohltönendes Lachen. Konrad saß wie im Traume da und ihm war, als ob er eine lange Unterhaltung mit Miß Sikes führte, in der er sich vor ihr rechtfertigte.

Man schellte draußen. Es wurde geöffnet und eine Männerstimme fragte nach Miß Sikes. Konrad hörte es mit Gleichgültigkeit, die alte Dame aber sprang auf, erschreckend blaß und mit versagender Stimme ausrufend: „Das ist er!“

Und er war es.

Gegenüber der Thür, die das meldende Mädchen öffnete, an dem kleinen Spiegel mit dem Ordnen seiner Frisur beschäftigt, stand Werner Lemberg, – und heute wie vor Jahren hatte Konrad Herrendörfer die Empfindung, als müßte er mit einem Wuthschrei auf ihn zuspringen, ihn schütteln, würgen, ihm die Seele aus dem Leib zerren – die falsche, verrätherische Seele.

Mein Gott, konnte er denn nicht vergessen, daß er den Mann da geliebt, fast mehr noch als das schöne blonde Weib, das im Nebenzimmer sang und lachte?

Mußte ihm mit der Blutwelle, die jäh in sein Gesicht stieg, mit dem alten Haß zugleich ein plötzliches, schmerzhaftes Erinnern an das kommen, was dieser Mann ihm gewesen war?

Einen Halbgott hatte er, der kühle Verstandesmensch, wie er sich nannte, einst in dem begnadeten Künstler gesehen, dessen klassische Schönheit ihn noch früher gefesselt hatte als sein glänzendes, bestrickendes, liebenswürdiges Wesen, das ihm die Herzen der Menschen öffnete, ohne daß er es zu begehren schien.

Ueber die höchsten und tiefsten Dinge hatten sie sich ausgesprochen, beim Wein, – in räucherigen Bierlokalen, in mondscheinhellen Sommernächten, und mit welchem Enthusiasmus hatte er sich an den Vielerfahrenen angeschlossen, vor dem manche Hellsehende – sein Vater und sein Bruder waren darunter – ihn warnten, und den er, stolz auf seine Freundschaft, gegen alle „philisterhaften“ Angriffe vertheidigte. Sie hatten ihn eben alle nicht erkannt, sie nahmen ihn, wie er sich bei oberflächlicher Bekanntschaft gab, als genialen, liebenswürdigen, aber durchaus unzuverlässigen Musensohn, – sie ahnten nichts von dem tiefen Gemüth, dem leidenschaftlichen Empfinden, der göttlichen Zartheit dieses Künstlergemüths, was sie allerdings wohl alles aus seinen Bildern hätten herauslesen können.

Aber freilich, die große Menge!

Als die große Menge dann Recht behalten hatte, – ach nein, viel zu glimpflich noch war sie gegen den Elenden gewesen! – da war mit der Freundschaft für ihn auch jedes innigere Empfinden in der Seele des jungen Mannes gestorben. In den Staub gezogen waren die idealen Güter des Lebens, die nur langsam, langsam an seinem geistigen Horizont als erstrebenswerth wiedererstanden, bis sie in der wahrhaften Liebe zu der reinen, jungen Gertrud ihm wieder ganz zu eigen geworden waren.

Wohl ihm, daß ihm in diesem kurzen, aber qualvollen Augenblick des Erinnerns die schönen, unschuldsvollen Augen seiner Braut Trost zusprechen konnten!

Tief athmend strich er über sein Gesicht und wendete sich dem zitternden, alten Fräulein zu, die dem Mädchen noch keinen Bescheid gegeben hatte.

„Nehmen Sie ihn an und fragen Sie nach seinen Bedingungen!“ sagte er fest. „Mir gestatten Sie, mich in ein anderes Zimmer zurückzuziehen, bis Lemberg Sie verlassen hat. Wir können dann sofort weiter sprechen, und es ist Ihnen vielleicht eine Beruhigung, mich in der Nähe zu wissen.“

„Sie können von hier aus nur in dieses anstoßende kleine Zimmer, das von diesem allein durch die Portiere da getrennt ist. Ich weiß nicht, ob es Ihnen recht wäre, so Zeuge des Gespräches zu sein –“ sagte Miß Sikes zögernd.

„Alles lieber, als direkt mit ihm zusammentreffen,“ sagte Konrad, schon die Vorhänge zurückschlagend und hinter denselben, vor einer kaum bemerkbaren Lücke, einen Augenblick verweilend.

Da trat Lemberg ein – nach einem kurzen Blick auf ihn wendete Konrad sich ab . . . Er hatte ihm viel von dem alten

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 559. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_559.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)