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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Euren Wahrspruch bei Pflicht und Eid habt Ihr vor Gott zu rechtfertigen; möge er Euch und Euer Kind nicht dafür strafen! Ich, Nout Zavarit, der geschworene Mann von Islas, spreche den Peider von Sils-Baseglia, trotz des vorgebrachten Entlastungsgrundes, nach Pflicht und Eid, so wahr mir Gott in meiner letzten Stunde helfe, im Angesicht des Himmels und von Grund und Grath – schuldig der geziehenen Blutthat und verurtheile ihn zum Tod durch den Strang!“ Dann setzte er sich nieder.

Peider war bei diesen verdammenden Worten erdfahl geworden, die freudige Bewegung, welche sich bereits allenthalben kundgegeben hatte, war verstummt, selbst der Ammann schien durch die Rede des alten Mannes tief erschüttert zu sein, denn unwillkürlich hatte sich sein Haupt wie das eines Schuldigen auf die Brust niedergesenkt, und finster, ingrimmig blickte er zu Boden. Doch plötzlich wurde er wieder der Bedeutung des schwerwiegenden Augenblicks inne, und sich aufrichtend sprach er, ohne den Alten von Islas zu beachten, zu der lautlos harrenden Menge:

„Hört, Bündner Landgenossen! Der Wahrspruch ist gefällt. Von fünf geschworenen Männern haben vier auf Pflicht und Eid und nach dem altehrwürdigen Brauch den Angeklagten der geziehenen schweren Schuld los und ledig gesprochen. Peider von Sils-Baseglia, Ihr seid frei und unbehelligt könnt Ihr Euch heimbegeben.“

Jetzt erhob sich unter einem großen Theil der männlichen Zuschauer ein jubelnder Tumult, während andere stumm und ernst, wie mißbilligend, dreinblickten. Der glückliche Franzosen-Peider war auf seinen „gerechten Richter“ und zukünftigen Schwiegervater zugeeilt und hatte ihm mit leuchtenden Augen mehrmals die Hände gedrückt und geschüttelt. Dann ging er zu den anderen geschworenen Männern, denen er seinen Dank in gleicher Weise und mit beredten Worten kundgab, um dafür deren Glückwünsche über die unerwartete Verlobung mit der schönen Gold-Aninia entgegenzunehmen. Nun aber drangen die Bewohner der beiden Dörfer Sils, zunächst die näheren Freunde des Peiders in den Kreis, und ein Hochrufen und Glückwünschen ging los, daß für den Augenblick alle Bande der Ordnung gelöst waren. Da erhob sich Gian Madulani, der ebenfalls mit wohlgefälliger Herablassung die Glückwünsche eines nur geringen Theils seiner Landgenossen entgegengenommen hatte, und mit seiner kräftigen Stimme Ruhe gebietend, rief er der gerne verstummenden Menge zu:

„Da der Peider schuldlos und frei ist, soll er denn auch schon am nächsten Sonntag mein lieber Tochtermann werden. Um diese selbe Stunde wird hier die Trauung stattfinden und alle Pfarrgenossen werden als Zeugen willkommen sein!“

„Und ich lade alle – alle, die nur kommen wollen, zum Hochzeitsschmause, der dann folgen wird!“ rief nun seinerseits der Franzosen-Peider.

Jetzt ging ein Freudenlärm los, in den nun auch der Theil der Anwesenden, welcher sich bisher schweigsam verhalten hatte, mit einstimmte. Nur einige wenige entfernten sich, still und bedenklich die Häupter schüttelnd. – Der alte Nout Zavarit hatte schon längst der erregten, lauten Menge den Rücken gekehrt und wanderte in schweren, düsteren Gedanken seinem nur aus wenigen Feuerstellen bestehenden Dörfchen Islas, über Sils-Maria hinaus, am westlichen Ende des Sees von Sils gelegen, entgegen.

Sobald der Ammann durch die aufgeregte Menge zu Peider dringen konnte, trat er hinter ihn, legte ihm die Hand schwer auf die Schulter und sagte in seiner gewohnten Weise, die keinen Widerspruch duldete: „Jetzt geh’ heim, Peider! Nach der Mittagssuppe komme ich zu Dir, um alles sonst noch für die Heirath und die Folge Nöthige – verstanden? – mit Dir zu besprechen. Gott befohlen!“ Hierauf wendete er seine Schritte, mit einem ganz andern Ton vor sich hin murmelnd: „Und nun – zu den Weibern! Ich müßte nicht Gian Madulani sein, wenn ich die Alte – und die Junge nicht zwingen könnte, nach meiner Pfeife zu tanzen.“

Während der Ammann seinem Gehöfte zuschritt, die Menge sich nach allen Richtungen hin verlief, trat der Franzosen-Peider mit seinen Freunden und engeren Landsleuten in einem wahren Siegeszuge über Sitvaplana die Heimkehr an. Das sang, schrie und johlte aus wohl hundert jugendlich kräftigen Kehlen, daß es von den Bergen wiedertönte und erst nach einer langen, langen Weile in weiter Ferne verhallte. Doch seltsam! Der am längsten der Lustigste hätte sein müssen, wurde am ehesten still: der Peider begann nachzudenken.


5. Wie Mutter Barbla spricht und handelt.

Als der Cavig sein Haus betrat, fand er seine Frau beschäftigt, den Mittagstisch zu ordnen. Eine bunte Decke war des Sonntags halber aufgelegt worden und zwischen den drei einfachen Gedecken lagen auf einem wie röthlicher Marmor blinkenden Anschneidebrett aus Arvenholz große Scheiben des köstlichen, an der reinen und frischen Luft des Hochthals gedörrten Fleisches, während im Nebenraum auf dem Herde in mächtiger Schüssel eine Suppe dampfte, die aus in Speck gerösteten Kastanien und einem zerkleinerten Huhn äußerst schmackhaft bereitet war. Stumm erwiderte Frau Barbla ihres Mannes kurzen und barschen Gruß, ohne sich dabei in ihrer Hantierung stören zu lassen. Madulani hielt eine kleine Weile an sich, während er den Hut umständlicher an den Nagel hing, als gerade nöthig war, und dabei sein Weib scharf von der Seite beobachtete. Endlich entschloß er sich, zu reden, und fragte:

„Warst Du in der Kirche – bei dem Gedinge?“

„Ich war dort,“ antwortete die Frau kurz und ohne aufzuschauen.

„Und das Mädchen?“

„Hat das Haus nicht verlassen. Sie ist bei dem Verwundeten, der – dem Herrn sei Dank! – in wenigen Tagen das Bett wird verlassen können.“

„Das ist gut – ich kann ihn hier nicht länger brauchen, Du wirst wissen, warum: denn wenn Du auf dem Plan warst, so hast Du auch gehört, was dort vorgegangen ist – laut genug wurde gesprochen.“

Da hielt Frau Barbla in ihrem Thun inne und richtete sich auf. Voll und scharf blickte sie ihrem Manne in das Angesicht, dann sagte sie mit starker Stimme: „So laut wurde gesprochen, daß es bis zum Himmel und zu dem dringen mußte – auf den Ihr geschworen habt.“

„Ich frage Dich, ob Du gebört hast, was wir geredet, was ich zugesagt und – beschworen,“ unterbrach sie der Ammann, der ebenso viel Ungeduld wie Unbehagen empfand.

„Ich habe gehört,“ fuhr Barbla unbeirrt fort, „daß der alle Nout von Islas zu Dir gesagt hat: ‚Euren Wahrsprach bei Pflicht und Eid habt Ihr vor Gott zu rechtfertigen; möge er Euch und Euer Kind nicht dafür strafen!‘ Und ich, Gian, sage Dir“ – hierbei trat sie ganz nahe an ihn heran und bohrte ihre scharfen Blicke in seine Augen – „ich sage Dir, daß des Himmels Strafe über uns alle kommen – uns alle verderben wird, wenn wir nicht wieder gutmachen, was Du gesündigt hast – denn Du hast als Ammann und Vater – einen Meineid geschworen!“

„Weib!“ schrie Madulani auf, am ganzen Körper vor Wuth zitternd, und einen Schritt von ihr zurückweichend, streckte er ihr die geballte Faust entgegen.

Doch die Frau ließ sich durch diesen Wuthausbruch nicht stören. Die Stimme mäßigend, sprach sie mit dumpfem bebenden Ton, doch um so eindringlicher weiter: „Du hast einen Meineid geschworen, Gian, denn an jenem Unglückssonntage hast Du den ganzen Morgen das Haus nicht verlassen – und der Peider hat es nicht betreten. Du sahst ihn nicht während des Festes! Du sahst ihn zum erstenmal, nachdem die Blutthat geschehen war!“

Madulani hatte bei diesen Worten, deren Richtigkeit er anerkennen mußte, die Farbe gewechselt. Verwünscht, daß er an diesen Umstand nicht gedacht hatte! Sein Athem stockte und mit weit aufgerissenen Augen starrte er sein Weib an, das den Blick gleichmüthig aushielt. Aber seine Betroffenheit währte nur kurze Augenblicke, dann raffte er sich mit einer starken Willensanstrengung zusammen, suchte seinem Gesicht wieder den gewohnten gebieterischen Ausdruck zu geben und polterte in barschem Ton:

„Was weißt denn Du? – Ich habe dem Peider die Hand der Aninia zugesagt und am nächsten Sonntag, heute in acht Tagen, ist die Trauung – vor allen Pfarrgenossen. Es muß schnell gehen, damit die leidige Geschichte zur Ruhe kommt. Du magst es dem Mädchen sagen, in einer Woche könnt Ihr mit allem fertig sein, was sie zur Hochzeit braucht, – die Ausstattung liegt ja ohnedies schon jahrelang im Schrank. Am Sonntag führst Du sie dann zur Kirche, wie es sich für die Mutter ziemt. Zeit genug zum Ueberlegen habt Ihr heute, denn nach dem Mittagessen gehe ich nach Sils-Baseglia zu dem Peider, um alles Weitere zu ordnen. So habe ich es beschlossen und dabei bleibt’s!“

Frau Barbla war wieder ruhig, wie zu Anfang dieser bedenklichen

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