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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

No. 32.   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


Gold-Aninia.

Eine Erzählung aus dem Engadin. Von Ernst Pasqué.

(Fortsetzung.)

4. Das Gericht der geschworenen Leute und eine Verlobung.

Der Sonntag war gekommen, und wohl noch nie hatte Surley zur Zeit des Gottesdienstes ein solches Zusammenströmen von Bewohnern der Umgegend, Genossen der Pfarrgemeinde, gesehen. Die kleine Kirche war gedrängt voll, doch draußen harrte eine weit größere Menge, die den Platz vor dem Gotteshause vollständig füllte. Die Männer standen beisammen und dem Eingang zunächst, ferner im weiten Ring die Frauen und Mädchen, denn erstere nur hatten das Recht, dem Gericht Auge in Auge anwohnen zu dürfen. Eine Anzahl abgesägter, dicker Baumstümpfe und Wurzelstöcke, als Sitze geeignet und wohl schon ein paar Jahrhunderte alt, war an verschiedenen Seiten der Kirche aufgestellt; sie dienten zu allerlei Zwecken, sowohl zu heiterem Beisammensein und Plaudern an schönen Abenden und freien Sonntagnachmittagen, wie auch zu ernsten Verhandlungen über das Wohl der Gemeinde. Denn solche wurden stets unter freiem Himmel, im Beisein von jedem, der Interesse daran hatte, abgehalten. Am Sonntag vorher hatten die Blöcke, so weit sie reichten, als Stützen der Festtafeln und als Bänke dienen müssen; heute waren ihrer fünf in einem Halbkreis vor der Kirche aufgestellt worden für die fünf geschworenen Leute, zu denen der Cavig Gian Madulani als Ammann und Richter zählte. Die Männer ringsum sprachen nur leise zusammen oder blieben stumm und ernst. Die Frauen aber schauten mit ängstlichen Mienen, sichtlich ergriffen, den Vorgängen, die sich hier bald entwickeln mußten, entgegen. Endlich war der Gottesdienst, die mahnende Predigt des alten Geistlichen zu Ende, jetzt hatten die weltlichen Richter das Wort.

Die Glocke des kleinen Thurmes zeigte dies an; einzelne in Pausen aufeinander folgende Schläge erklangen, und dies ernste, einfache Läuten machte sichtlich einen tiefen Eindruck auf die harrende Menge. Kündeten diese einzelnen Glockenschläge doch nach altem Brauch, daß es sich um eine Blutthat handle, die, erwiesen, nur mit dem Tod durch den Strang gesühnt werden konnte. Eine Bewegung entstand unter den bisher unbeweglichen Gruppen; ein schwaches Tönen, wie von tiefem Aufathmen in Begleitung einzelner furchtsam geflüsterter Worte herrührend, wurde laut und die Männer traten bei Seite, denen, die unter dem steten Läuten der Glocke das Gotteshaus verließen, Raum zu geben.

Endlich, nachdem die gewöhnlichen Beter die Kirche verlassen hatten, erschienen die Hauptpersonen vier alte, würdig aussehende Männer mit dem Cavig und Ammann Gian Madulani, der sie alle fast um Kopfeslänge überragte. Dann folgte ein Mann in schlichter Tracht, in der Hand ein altes Schwert und einen zusammengerollten Strick; es war der Büttel, der Wächter eines verhafteten Angeklagten und wohl auch der Henker des Verurtheilten. Von ihm und dem Geistlichen, der unter der Kirchenthür zurückblieb, wurde der Franzosen-Peider seinen Richtern überliefert. Diese hatten sich auf den Baumstümpfen im Halbrund niedergelassen und in ihrer Mitte thronte, etwas erhöht sitzend, der Ammann. Vor ihn legte der Wächter Schwert und Strick auf den Boden nieder, dann

Der Gläserslowak.
Nach einer Zeichnung von J. R. Wehle.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 533. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_533.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)