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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Nach einigen kleinen Gewissensbeunruhigungen setzt Konrad sich denn auch, innerlich froh, wie seit längst vergangenen Tagen nicht mehr, neben das geliebte Mädchen und wird nicht müde, sich dieselben Versicherungen zurückgeben zu lassen, die er von Zeit zu Zeit durch leise, zärtliche Liebkosungen bekräftigt, die immer neuen, alten von ewiger Liebe.

Nachdem beide dann eine Weile schweigend neben einander gesessen, richtet sich Gertrud auf und fragt:

„Woher kennst Du eigentlich Miß Sikes?“

Es ist eine Frage, die ihr beiläufig in den Sinn kommt, mit der ihre frische, kräftige Natur aus der Gefühlswelt in die Wirklichkeit zurückkehrt.

Mit Erstaunen sieht sie, wie ihres Bräutigams Gesicht sich verfinstert, und nun lacht sie, ein helles, übermüthiges Lachen, das ihn zuerst an sie gefesselt hat.

„Hat die gestrenge Miß Dich etwa auch mit Vokabeln, Grammatik und Litteratur gequält, oder mit ihrem ladylikegentlemanlike muß ich ja sagen, und ihren geschmacklosen Toiletten? Du siehst entschieden gramvoll in der Erinnerung aus.“

„Gramvoll?“ – Nun lacht er auch, nicht ganz natürlich, und sagt leichthin: „Ich habe Fräulein Sikes vor vielen Jahren oft getroffen – und gequält hat sie mich allerdings auf ihre Weise. Aber im Grunde war sie eine gute, anständige Dame, die ich hochachtete.“

Gertrud schlug die Hände zusammen.

„Also wahrhaftig, Du kennst sie! Aber wann war das? Sie ist schon lange, lange hier und vom ersten th bis Shakespeares ‚Julius Cäsar‘ meine englische Lehrerin gewesen. Noch vor meiner Reise nach Rügen habe ich Unterricht bei ihr gehabt, und ich hätte ihn jetzt im Winter wieder fortgesetzt, wenn –“ sie brach erröthend ab . . . „Hochachtung sagst Du übrigens? Das ist mir ein unbekanntes Gefühl. Ich kenne nur Lieben und Nichtleidenmögen, und alle anderen Gefühle und Gefühlchen sind mir unbegreiflich und nicht verständlich.“

„Damit kommt man auch erst in Uebung, wenn man mehr erlebt hat. Es ist wie mit dem Einüben einer Tonleiter – erst wollen die Finger nicht recht . . . aber verzeih, Liebchen,“ bricht Konrad kurz ab, „es wird dunkel, ich muß gehen. Schreibe mir augenblicklich, wenn Dein Vater da ist – ich wohne im ‚Deutschen Hause‘. Wie glücklich wollen wir dann sein, mein Liebling! Unterdessen werde ich oft vorüberkommen und Dein liebes Gesicht am Fenster sehen.“

„Du willst nicht heraufkommen?“ fragt Gertrud erstaunt.

„Nicht, bevor ich ein Recht dazu habe,“ antwortet Konrad standhaft und verabschiedet sich, da eben ein Dienstmädchen durch den Flur geht, nur mit festem Händedruck von seiner Braut.

Sein Herz schlägt froh bewegt. Als er aber die Treppen langsam hinuntergeht, kommen ihm plötzlich die Gedanken wieder, unter deren Einfluß er sie vorher hinaufschritt, die Gedanken an die überraschende Begegnung mit Miß Sikes – und jetzt, nicht verscheucht durch Gertruds glückliches Gesicht, durch ihr liebes Geplauder, gewinnen sie auch wieder Macht über ihn.

Warum heute gerade diese Begegnung mit der alten Engländerin, die ihn an die düsterste Zeit seines Lebens erinnert?

Konrad Herrendörfer ist ein wenig Fatalist und läßt sich leicht durch kleine Zufälligkeiten beeinflussen. So ist er denn jetzt, wo wirklich schmerzliche und peinliche Gefühle in der Erinnerung an vergangenes Unglück in ihm erwachen, seiner Natur nach berechtigt zu der halb traurigen, halb zornigen Empfindung, die ihm das Herz zusammenschnürt. Es ist, als ob der Nebel der Straße sich auch über seine Gedanken breite und über alles, was er sich vorhin sonnig und glückselig ausgemalt hat.

Tief verstimmt tritt er in sein Zimmer. Es ist schon ganz dunkel. Der Kellner zündet das Licht an und zieht sich zurück, nachdem er einige kurze Befehle empfangen.

Konrad faßt den festen Vorsatz, seiner trübseligen Stimmung Herr zu werden. Er versucht, sich durch den Anblick des lieblichen Bildes seiner Braut zu zerstreuen, er beginnt die Lektüre


Sommerlust. Nach einem Gemälde von Prof. H. Stelzner.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 493. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_493.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)