Seite:Die Gartenlaube (1889) 492.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Schatten.

Novelle von C. Lauckner.

Wohin? Konrad Herrendörfer, das Haupt seiner Tafelrunde, der Vielgereiste und Vielgewandte, der die Kenntniß der feinsten Lokale der Hauptstadt zu einer Art Studium gemacht hat, – der niemals in Verlegenheit um einen lustigen Abend ist, – steht hier in der fremden Stadt an der Ostgrenze des Reiches rathlos in der Nähe einer großen Laterne, sieht auf den Marktplatz nach einer, in die endlos lange Straße nach der andern Seite und seufzt recht unzufrieden und gelangweilt.

Es ist aber auch eine eigene Lage, in der er sich befindet. Er ist sozusagen incognito in der alten Pregelstadt Königsberg, zum erstenmal in seinem vielbewegten Leben, dessen Haupterlebnisse sich bisher mehr in der Mitte und im Süden unseres deutschen Vaterlandes abgespielt haben.

Sonderbares Schicksal, das ihn nun, da er in eine neue Staffel seiner Entwickelung eintreten will, bis hierher, in die „Stadt der reinen Vernunft“, verschlägt, die sich ihm übrigens in möglichst unvortheilhaftem Licht zeigt. Nebel, dichter Nebel vom Morgen an, ein für den verwöhnten Feinschmecker ungenießbares Diner, und, es ist zum Verzweifeln! – der Gegenstand, dem zuliebe er sich hier aufhält, nicht sichtbar für ihn, weil – ja weil er es nicht für vereinbar mit den gesellschaftlichen Formen hält, seine Braut zu besuchen, ehe deren Vater ihr Bündniß bestätigt hat.

Dieser Vater hätte von seiner Badereise vielleicht doch einen Tag früher heimkehren können, als Gertrud und er es angenommen hatten, und für diesen immerhin möglichen Fall, der leider nun nicht eingetreten, ist Konrad etwas früher in Königsberg eingetroffen, als er mit seiner Braut verabredet hat.

Was nun beginnen? Was mit dem Ueberfluß an Zeit anfangen in einer Stadt, in der ihm die Lokalitäten vollständig fremd sind, in der jeder Bekannte ihm in seiner augenblicklichen zweifelhaften Lage geradezu unangenehm sein müßte? Bis zum Theater noch zwei Stunden. Soll er in sein Hotel zurück und versuchen, sich dem vielgetreuen Freund, dem Schlaf, zu widmen, trotz des unruhigen Herzens, trotz der nervösen Aufregung, die ihn aus seinem behaglichen Zimmer hinausgetrieben hat?

Und nun lächelt er. Ueber sich selbst, über seine Erregung, seine Rathlosigkeit, über das, was er seinen Materialismus nennt. Das will in diesem Fall sagen: seine Gedanken an Zeitvertreib irgend welcher Art, während doch zwei schöne, freimüthige Augen in die seinen blicken sollten, so daß er darüber Zeit, Ort und alle sonstigen Bedingungen des Daseins vergessen müßte.

Wie er sie sich so recht klar vorstellt, diese lachenden Augen, und den kleinen, vollen Mund dazu, der so lustig und doch so verständig plaudern kann, – und die schlanke, jugendliche Gestalt, die er eine kurze Spanne Zeit in den Armen gehalten, da wird ihm doch so eigenthümlich warm, daß er augenblicklich nur den lebhaften Wunsch empfindet, sie wiederzusehen.

Sein Herkommen ist, wie gesagt, verabredet, morgen wird er öffentlich die Rolle übernehmen, die er Umstände halber seit ein paar Wochen heimlich gespielt hat, – die des glücklichen Bräutigams. Er, der Vierziger, dessen Haar sich schon bedenklich zu lichten beginnt und den seine Freunde den unverbesserlichen Junggesellen nennen.

Wieder erscheint das frische Lächeln in seinem ernsthaften, etwas blasirten Gesicht, und dann wendet er sich, um den Weg einzuschlagen, den er heute schon mehrmals genommen hat, den nach dem großen, ziemlich geschmacklos aufgeführten Hause, nach dessen zweitem Stock er schon mehrmals ohne jeden Erfolg geblickt.

Nun steht er wieder davor, mit einem Gefühl etwa, wie er es als Knabe am Tage vor Weihnachten empfunden hatte, wenn er vor der verschlossenen Thür der Stube stand, in der die Weihnachtsherrlichkeiten aufgebaut waren.

Es beginnt zu dämmern, da kann er dreister nach dem Eckfenster schauen. Er geht über den Damm auf die Seite gegenüber dem Hause, das seinen Schatz birgt. Jetzt glaubt er eine weibliche Gestalt zu erkennen und sieht unverwandt hinauf . . . sie ist verschwunden – aber nun fühlt er plötzlich seine Hand ergriffen und sieht in das rosige Antlitz – dicht neben sich, – das ihm das liebste auf der ganzen Welt ist.

Wie im Traum steht er da und hält die kleine, warme, unbehandschuhte Hand so fest, als hätte sie einen Versuch gemacht, sich zu befreien.

„Gertrud, mein Liebling,“ sagt er endlich mit erregter Stimme, die liebliche Erscheinung musternd, – „Du hast keinen Hut, bist überhaupt nicht für die Straße angekleidet . . . “

Sie trägt in der That über dem dunkeln Hauskleide ein niedliches Schürzchen und steht ohne Hut in dem strömenden Regen da, halb lachend, halb weinend, roth vor Glückseligkeit.

„Laß uns hineingehen!“ sagt sie. „Wie hatte ich Zeit, an eine Straßentoilette zu denken . . . Ich stehe in Gedanken bei dem Strauß, den ich heute von Dir erhalten habe, – ich sehe hinunter, sehe einen grauen Paletot, – ich liebe alle grauen Paletots, seit“ – – sie streift den in keiner Weise bemerkenswerthen mit zärtlichen Blicken – „und dann, als der Schirm sich zur Seite biegt, – erkenne ich Dich, Dich selbst, und im nächsten Augenblick bin ich bei Dir.“

Er muß wieder trotz des strömenden Regens und trotz des nicht üblichen Straßenanzuges seiner Braut stehen bleiben, unbekümmert um die erstaunten Blicke der Vorübergehenden. Er übersieht dabei zwei Damen, die dicht vor ihm gehen, und macht einen Schritt so schnell vorwärts, daß eine von ihnen genöthigt ist, vom Trottoir auf die Straße zu treten.

Sie sieht sich um, ein erzürntes „shocking“ hervorstoßend, dabei treffen ihre befremdeten Blicke Gertrud, die tief erröthend grüßt . . . „Miß Sikes . . . “

„Ja, Fräulein Sikes,“ – sagt auch Konrad, – „ich erkannte sie deutlich.“

Diese Stimme, – rauh, krächzend fast in der Entrüstung – Konrad läßt den Schirm sinken und folgt langsam dem schlanken Mädchen, das vor ihm die Treppen hinaufläuft und dann die offene Flurthür hinter ihm schließt.

Nun sieht sie mit großen, erwartungsvollen Augen ihrem Bräutigam zu, wie er Schirm und Ueberrock ablegt und blaß und stumm auf den Boden blickt.

Arme Gertrud . . . Mit jedem Herzschlag vermindert sich ihre grenzenlose Freude, – sie schiebt schüchtern ihre Hand in die seine und fragt:

„Bist Du mir böse, weil ich mich so auffallend benahm, – und weil Miß Sikes das sah?“

Eine direkte Antwort erhält sie nicht, aber eine befriedigende. Konrad zieht sie an sich und küßt sie, wie er sie nie geküßt, wild, mit brennenden Lippen, – als ob es ein Abschied wäre und nicht ein Willkommensgruß, eine Einleitung zu einem langen, glückseligen Leben.

„Um Gotteswillen . . . “ sie macht sich los und öffnet die Thür . . . „Komm hinein, – unsere Leute wissen ja noch nicht, daß wir verlobt sind, – wenn sie es gesehen hätten . . . “

Konrad hat sich unterdessen in seine gewöhnliche, etwas gemessene Haltung zurückgedämmt. Es ist seiner Meinung nach eigentlich unverantwortlich, daß er seine Braut hier aufgesucht hat.

Er hat sie auf Rügen in einer ihr verwandten Familie kennen gelernt, während ihr Vater die Kissinger Kur brauchte. Sie durften ihn um Gotteswillen nicht darin stören durch eine so bedeutungsvolle Nachricht wie die ihrer Verlobung, meinte Gertrud, und er hatte sich damit zufrieden geben müssen, ihr zuweilen heimlich die Hand zu drücken, ihr ein paar Worte zuzuflüstern und ihr zuweilen einige Zeilen zu schreiben während der wochenlangen Trennung.

Denn Gertruds Vater kam erst einen Monat nach ihrer Rückreise von Kissingen zurück, und dann sollte auch Konrad in Königsberg eintreffen, um feierlich die Hand des Mädchens zu erhalten.

Nun hat seine Unruhe ihn vor dem bestimmten Zeitpunkt hierher getrieben und in eine Lage, die er, mit einer sonst für Damen seines Kreises sehr weitgehenden Rücksichtnahme, kompromittierend für seine Braut nennt.

Aber was hätte er nun auch thun sollen? Wenn ein Mann in Konrad Herrendörfers Alter, mit seinen Erfahrungen und seiner schwarzseherischen Weltanschauung noch einmal durch die mächtige, treibende Kraft eines echten Gefühls bewegt wird, pflegen anerzogene und anerlebte Grundsätze selten Stich zu halten.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 492. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_492.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)