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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Er ging in die Stadt. Vor jedem Laden blieb er stehen, planlos, nur um die Zeit zu tödten. Vor einem Spielzeugladen stand er still, ohne zunächst von den Auslagen irgend etwas zu bemerken. Erst als von drinnen, zwischen den Wänden eines Theaters und einer Puppenküche, ein Männerarm hervorlangte, um eine nahe dem Fenster aufgebaute Spielerei empor- und hineinzunehmen, bemerkte Alfred, daß da Sachen standen, die früher sein aufmerksamstes Interesse erregt hatten. Vor solchen Fenstern hatte er zahllose Male in den Erwägungen gestanden. „Würde das Kind diese Trompete nicht gern haben? und würde Gerda sich nicht beide Ohren zuhalten und zu den schrecklichen Tönen lachen?“ – „Oder wenn ich ihm diese Spieldose mitbrächte, würde der Junge nicht schon nach einer Stunde die Mechanik untersucht und zerstört haben?“ – Sascha liebte vor allen Dingen Spielzeuge, bei denen er „inwendig“ großartige Entdeckungen machen konnte.

Zahllose kleine lustige Erinnerungen an solche Zerstörerthaten des Knaben hellten die Züge des Mannes auf. Sein Auge ward lebhaft, er suchte nach hübschen Dingen für die flinken kleinen Finger. Da und dort und dies und das – ein Dutzend Sachen gleich auf einmal, die ihn erfreuen möchten. Alfred wollte in den Laden treten, seine Hand griff gewohnheitsmäßig nach der Geldtasche.

Da stockte sein Fuß und seine Kniee zitterten. Jäh kam in sein Gedächtniß, warum er hier und jetzt hier stand. Er wartete auf den Zug, der ihn an das Todtenbett, vielleicht an die Leiche des geliebten Kindes bringen sollte. Er war im Begriff gewesen, für die kleinen Hände Spielwerk zu suchen, die vielleicht schon erstarrt waren.

Tödliche Angst ergriff ihn. Er floh davon, wieder dem Bahnhof zu und erfuhr dort neue Qual des Wartens.

Aber endlich, endlich hallte der letzte hohle Pfiff der Lokomotive von dem niederen Dach des Bahnhofes wieder, und durch die häßliche Breite der Geleise, Güterschuppen, zusammengeketteten Wagenreihen fuhr der Zug ins Freie.

Draußen lachte herrlichste Winterpracht. Denselben Weg war Alfred mit Gerda im Hochsommer gefahren.

Sein Herz erzitterte. Damals hatten sie geglaubt, ihre Liebe sei gewaltig genug, um sie Selbstüberwindung zu lehren. Seitdem hatten sie sich in Haß gegeneinander aufgebäumt und doch – und doch – keinen Athemzug gethan, ohne aneinander heiß zu denken. Und was war das, was ihn so qualvoll jetzt zermarterte? Diese wahnsinnige Erregung, die ihn wie Flammen durchloderte? War das nur die Angst um das geliebte Kind? Nur das? Zitterte sein Herz nicht vielmehr vor dem Augenblick, wo er ihr wieder begegnen sollte? Schlugen nicht ihr seine Pulse entgegen?

Und wieder wurde es Abend und wieder sank die Winternacht schnell hernieder. Aber das blendende Schneegebreite gab hellen Dämmerschein, so hell, daß der Mann aus den Wagenfenstern das Berghaus droben zu erkennen glaubte, als der Zug in das Oosthal einfuhr.

Und als er dann im schnell gleitenden Schlitten durch die Anlagen und bergan fuhr, hämmerte in seinen Schläfen das Blut, jeder Herzschlag tönte dort wie ein dumpfes Echo wieder. Seine Hände bebten, er fühlte seine Sinne unklar werden.

Das Kind, die Sorge um sein Leben – er hatte alles, alles vergessen. Die ganze Welt trug nur das eine Geschöpf für ihn: sie! Sie sehen, hören, zu ihren Füßen liegen, ihren Athem trinken, in ihren Armen vergehen! –

Da hielt der Schlitten. Er sprang heraus. Ein fremder Mensch trat herzu, ein Knecht oder Diener – Alfred sah alles wie im Traum. Der Mann sagte, daß man ihn seit Tagen erwartet habe, und brachte ihn in ein Gemach und ließ ihn allein.

Warten? Jetzt noch warten auf einen Ruf? Er warf seinen Pelz von sich und ging durch die nächsten Zimmer. Alles kalt und leer und kein anderes Licht als das vom Schnee draußen. Doch da – ein Schimmer durch die Spalte.

Er riß die Thür auf. Das Zimmer war leer, doch hell und warm, und durch weit zurückgezogene Vorhänge sah er in ein anderes Gemach, darinnen ein gedämpftes Licht matt über ein Bettchen floß und ein weißes Gesicht, geschlossene Augen und eine dunkle Lockenfülle unsicher mehr errathen als erkennen ließ. Und zu Häupten neben diesem Bette ein Lehnstuhl und darinnen ein Weib, das sein Haupt wie sterbensmüde gegen die Polster gelehnt hatte.

Er ging wankend vorwärts, das Geräusch seiner Schritte erweckte die Frau, sie hob das Angesicht und sah auf – –

Er lag zu ihren Füßen.

Sie waren beide stumm. Seine Arme umklammerten ihren Leib, sein Haupt lag in ihrem Schooß. Sie hatte den Kopf wie ohnmächtig weit zurückgelehnt und ihre Finger um seinen Nacken zusammengeschlossen. Sie sprachen kein Wort. Aber seine Seele vernahm ihren Herzschlag und die Geschichte ihres Grames. Er wußte, was sie gelitten hatte, und daß sie hier saß, um den letzten Athemzug ihres Kindes zu erlauschen.

Und so, nahe aneinandergeschmiegt, wuchsen ihre Gedanken immer heißer ineinander. Und endlich erhob er das Haupt und seine Augen suchten ihr Angesicht, das blasse, gramgeschmälerte. Sie aber sah ihn an, groß und mit dem Staunen eines Menschen, dessen Seele nicht mehr an Liebe zu glauben wagt.

Seine Lippen näherten sich den ihren, und ohne daß sie es beide gewollt oder gewußt, küßten sie sich lange und heiß. Er ließ sie nicht aus seinen Armen. Er flüsterte zu ihr, Worte von Liebe und Mitleid.

Da schraken sie beide auf. In dem Bettchen rührte es sich. Ein seufzender Athemzug kam von den Lippen des Kindes.

Sie knieeten vor dem Lager, Wange an Wange sahen sie mit bangen Blicken auf das schmale, liebe Gesicht mit den eingesunkenen Schläfen und dem bitteren Leidenszug um den Mund.

Fühlte das Kind die Blicke? War es aus seinem hindämmernden Schlummer erwacht? Aus diesem Schlummer der äußersten Mattigkeit, der das letzte Hinsterben aller Lebenskräfte bedeutet? Der Knabe schlug die Augen auf. Sein Blick wurde groß, ein ängstlich aufleuchtendes Leben trat hinein – Unglaube und Glück zugleich.

„Ja, er ist da,“ flüsterte Gerda, während, ihr selbst gar nicht bewußt, Thränentropfen über ihre Wangen rannen.

Der Knabe lächelte. Dies Lächeln ließ beide erschauern. Es war etwas Erschütterndes darin, wie die abgezehrten Züge sich glücklich verklärten und doch gerade in diesem Lächeln die furchtbare Verheerung durch das Leiden zeigten.

Er wollte seine Arme erheben und war zu schwach dazu. Alfred erfaßte die heißen, trocknen Händchen.

Das große Auge des Knaben ging leuchtend von der Mutter zu dem geliebten Freund und mit seinen Blicken drückte er einen ganzen Himmel voll Seligkeit aus. Er sprach kein Wort.

Plötzlich verdüsterte sich sein Gesicht, Angst schien ihn zu ergreifen, er versuchte Alfreds Hände zu pressen. Und die Angst gab ihm die Kraft, welche das Glück noch eben ihm nicht zu geben vermocht hatte. Er bewegte die Lippen.

Sie neigten ihre Häupter ganz nah zu seinem Munde. Und seine tonlose, hauchende Stimme sprach zu ihnen:

„Bleibst Du nun wirklich immer da?“

„Ja, mein Liebling,“ antwortete Alfred leise.

„O bitte, aber streitet Euch nicht mehr, daß Du wieder fort gehst!“

Alfred und Gerda erzitterten. Er aber preßte das Weib an seiner Seite mit eisernem Druck an sich und sprach laut:

„Wir schwören es Dir! Nie mehr!“

„O – – “ seufzte das Kind mit Lächeln und schloß die Augen.

Es schien zu schlummern. Wie lange? Wer mochte es sagen! Wer auch sagen, wie lange die beiden wachend Hand in Hand noch an diesem Lager saßen! Stunden kamen und gingen, vielleicht Tage und Nächte. Alfred und Gerda wußten es nie. In ihren Seelen schmiedete das Gedächtniß die zwei Stunden in eine zusammen – die Stunde, da er sich zu ihren Füßen wiederfand, und jene andere, auch ewig unvergeßliche.

Sie dämmerte empor an einem bleigrauen Wintermorgen nach durchwachter Nacht. Ueber die Schneegefilde ging ein blasser Tagesschein und stahl sich bläulich durch die Spalten der Vorhänge. Das Licht der Lampe kämpfte, glanzlos und röthlich werdend, gegen den kalten hellen Schimmer an.

Der Knabe, vor Schwäche und vielleicht auch durch die Betäubungsmittel ärztlicher Kunst fast regungslos, lag in einem Zustand schmerzlosen Halbschlummers. Sein Athem war kaum hörbar, sein Auge geschlossen. Jeden Augenblick erwarteten sie, die auf der schrecklichen Wacht bei ihm saßen, daß der sanfte Athem ersterben werde.

Da wurde der Knabe unruhig, da schien ihn Noth nach Luft zu befallen, er bewegte sich ängstlich, er schien sich erheben zu wollen. Alfred stützte ihn.

Er rang mit etwas, das ihn zum Husten zu reizen schien. Umsonst. Sein Gesichtchen färbte sich dunkel. Anstatt des beseelenden Hustens kam ein röchelnder Laut.

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