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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

eine ganze Litteratur kommen, welche die Lungenschwindsucht und die Wege ihrer Heilung behandelte, unterrichtete sich über alle Luftkurorte, die für solche Kranke in Frage kommen konnten, und wußte Höhenlagen, Temperaturgrade und Pensionspreise in allen Orten auswendig.

Sie gewöhnte sich an, zu sagen: „Ich ginge gern da oder da hin, aber das ist zu spät für mich, ich muß schon nach San Remo.“

Das ganze Haus athmete auf, als sie endlich abreiste.

Nun war Gerda mit ihrem Sohne ganz allein. Daß der Herbst gekommen war und der Winter, bemerkte man dort oben nur an den Regenschauern und Stürmen, die vorüberjagten. Von den ineinander sich verziehenden Linien der sanften Bergeshöhen sah der immergrüne Tannenwald herüber, und wo da oder dort das nackte Geäst kahler Eichen und Buchen aus dem dunklen Grün braune Flecken warf, beachtete man es kaum.

Gerda verließ ihr Haus nie mehr. Das Wägelchen des Verwalters fuhr jeden Morgen hinab in die Stadt und brachte alles herauf, was für die Ernährung des Kindes und der Hausbewohner nöthig war.

Kein Laut aus der Welt kam mehr herauf; kein Buch, nicht einmal mehr eine Zeitung nahm Gerda in die Hand. Sie spielte weder Klavier, noch nahm sie je eine Nadel, um zu arbeiten. Der ganze Tag gehörte ihrem Kinde. Sie spielte mit Sascha, hielt ihn auf dem Schoß, wenn sie ihm vorplauderte, wachte neben ihm, wenn er ruhen sollte, bereitete seine Speisen selbst. Aber ach, sie fühlte, daß ihrem Wort die leichte Heiterkeit fehlte, die ein Lächeln auf dem süßen Gesichtchen hervorzaubern konnte; daß ihr Blick nicht hell und frei genug war, um den fragenden Augen des Knaben ermuthigend zu begegnen. Er wollte immer belehrt sein, aber sie verstand es nicht, spielend zu belehren und seinem Verstande die ersehnte Nahrung zu geben, indem sie zugleich seine Phantasie schön beschäftigte. Auf die tausend merkwürdigen Fragen, die ein zugleich über- und unreifer Kinderkopf aufwirft, hatte sie Erklärungen, zerstörende oder bejahende, zur Antwort. So gab sie ihm zu schwere Denkarbeit.

Und bei jeder Frage, bei jedem Spiel, bei jeder Traurigkeit des Kindes erinnerte sie sich, wie Alfred ihm zu antworten gewußt: befriedigend, ablenkend und doch nicht unwahr; wie er mit ihm zu spielen gewußt: erfinderisch, wichtig, unermüdlich, wie er ihn zu erheitern gewußt, daß sein helles Lachen durch das Haus klang.

Wenn heute noch einmal die Stunde käme, wo sie fragte: „Was soll Dein Lebensinhalt sein?“ und er antwortete noch einmal. „Ich will Deinem Sohne leben,“ würde sie noch sagen: „Zu wenig Lebensinhalt für einen Mann!“?

Auf den Knieen würde sie ihm danken und von ihm die Gesundheit und das Leben ihres Kindes zurückerwarten.

Er war vermählt! Vielleicht schenkte ihm die Natur eines Tages ein eigenes Kind. Bei solchen Gedanken schloß Gerda die Augen und nahm ihren Sohn fest in die Arme. O, wie hatte er Sascha geliebt! Konnte er den Knaben so ganz, ganz vergessen haben, daß er den rührenden Ruf des kleinen bangen Herzens nicht einmal beantwortet hatte?

Tausend Vorstellungen gingen zermarternd durch ihren Kopf. Hatte er damals Saschas Brief empfangen, als es schon zu spät war, von seinem jetzigen Weibe sich wieder los zu machen? Aber ein Wort, ein armes kleines Wort hätte er dem Kinde doch wiederschreiben können. Oder hatte er gedacht, diese kindisch liebessehnsüchtigen Zeilen seien von ihr, von Gerda, diktirt gewesen, und hatte er herbe und stolz ihr durch sein Schweigen zeigen wollen, daß zwischen ihnen alles erstorben sei, selbst die Erinnerung?

Und bei solchen Gedanken gährte der alte Zorn gegen ihn in ihr auf. Ja, es war alles erstorben zwischen ihnen und sollte todt bleiben. Einen Mann, der von ihrem Herzen weg so unvermittelt in die Arme einer andern eilte, konnte sie nur hassen.

Aber des Kindes hätte er gedenken sollen. Daß die kleine kranke Seele nach einem Zeichen von ihm schmachtete, das mußte er fühlen und wissen. Vielleicht hatte ein neues Liebesglück auch das Bild des einst geliebten Knaben in seinem Herzen ausgelöscht. Vielleicht hatte die Hoffnung auf eigene Kinder ihn das Kind seiner Wahl vergessen lassen.

Riesengroß flammte oft in Gerda der Wunsch auf, ihn nur noch einmal, einmal zu sehen, um ihm zu sagen – daß sie ihn hasse. Dann malte sie sich mit peinvoller Deutlichkeit alles aus, seine Gestalt, seine Stimme, sein Lächeln, sein blondes Haar. Und die Flamme des Hasses wandelte sich, ihr unbewußt, in die Gluth heißester Sehnsucht.

Sie fühlte es oft deutlich, daß er wiederkommen müsse, daß er wiederkommen werde. Das war ihr so gewiß wie die Wiederkehr der Jahreszeiten in der Natur. Aber wenn sie an dies Wiederkehren die Gedanken klammerte und wenn sie diese Gedanken ausspann und sich ein Weiterleben mit ihm dachte – dann schien es, als vergingen ihr die Sinne und als bäume sich ihr ganzes Wesen auf zu einer gewaltigen Abwehr. Und die Sehnsucht ward ihr neu zum Zorn.

Das Kind sprach nie von ihm. Aber Gerda sah, daß Sascha jeden Gegenstand, den Alfred einst in die Spielstube des Kindes getragen hatte, sorgsam bewahrte, und als der Knecht das Gärtchen zur Winterruhe bereitete, schickte Sascha das Stubenmädchen hinaus mit der Bitte, die kleine Hütte aus Tannenzweigen möge man stehen lassen. Sascha konnte sie von seiner Stube gerade sehen. Das Hüttchen hatte er mit dem Kinde gebaut, er den Tisch und die Bank darin mitgezimmert, er unter dem niedern Tannenreisergeflecht mit dem Knaben zusammen gekauert.

Oft, wenn das Kind auf Gerdas Schoß saß und mit seinen großen, unnatürlich glänzenden Augen in die Abenddämmerung hinaus starrte, waren sie beide ganz still. Jeder hörte den Herzschlag des andern im dumpfen, gleichmäßigen Takt gehen. Die Arme der Mutter umschlossen die Gestalt des Knaben fest. Ihr Athem bewegte leicht einige Härchen seines dunklen Gelocks. Die Schatten fielen herab und durch die Einsamkeit sang die Stimme des Windes, der durch den nahen Tannenwald sauste. Sterne blinkten auf, über die schwarzen Bergesfernen wandelte die Nacht.

In solchen Stunden dachten sie beide den einen Gedanken, den unauslöschlichen: an ihn!

Der Winter rückte vor. Das Gesichtchen des Knaben wurde kleiner, seine Augen immer wundervoller. Sein Gebahren ward träumerischer; kaum griff er noch mit seinen mageren Händchen nach dem Spielzeug. Seine Nächte wurden immer fieberhafter; Gerda saß oft stundenlang, hielt seine heißen Hände und sah stumm, mit brennenden, thränenlosen Augen auf ihn herab. Die Dienerschast beschwor die Herrin, sich zu schonen. Der Verwalter erlaubte sich die Bemerkung, daß das Athmen Tag und Nacht im selben Raum mit dem Kinde für die Gnädige nicht gut sein könne, auch ihre Wangen seien schon seltsam rosig und sie huste wie das Kind. Gerda bestritt es, denn sie wußte nicht, daß sie huste oder fiebere; sie hatte ihr Ich ganz vergessen.

Es war in der zweiten Hälfte des Dezembers, als es zu schneien begann. Aus leichtem grauen Gewölk, das eine Weile am blauen Himmel stand und dann langsam weiterzog, fiel feiner weißer Staub auf die Tannenbreiten und zu Thal niedergehenden Gelände. Ein frischer Wind fegte die Tannennadeln wieder frei, die Mittagssonne nahm den Schnee aus den Ackerfurchen und von den Wiesenabhängen hinweg. Dann, Tag um Tag, schob sich fester und undurchdringlicher ein Wolkenmeer ineinander, heftiges Flockengeriesel wechselte ab mit kaum sichtbar herabstäubenden Schneetheilchen. Am Himmel verschwammen die finsteren dunklen Linien, die letzten blauen Durchblicke verblaßten; ein gleichmäßiges, lichtloses, blendendes Hellgrau spannte sich über die Erde und in unveränderter Ausdauer Nacht und Tag wirbelte der fallende Schnee herab. Die Flocken fielen auf die sich zu Thal senkenden Matten und häuften auf sie hohe lockere, weiße Decken; die Flocken rieselten durch das Gewipfel der ragenden Tannenwälder, beschütteten das Gezweig und beschichteten den Waldgrund, daß er silbern emporstieg an den grauen Stämmen, langsam, langsam, aber unaufhaltsam. Zuletzt lagen die untern Zweige mit ihren Spitzen auf weißem Wall, und auf dem sich breitenden Geäst lasteten die Schneemassen schwer. Kein Windstoß schüttelte mehr die dunklen Wipfel und sie hüllten sich alle in Weiß.

Die blauen Höhen der Ferne waren weiß, die grünen Berge der Nähe weiß, weiß das Gelände und unter weißen Kappen versteckt die Dächer im Thal. Kaum daß noch die grauen Felsenschroffen der alten Schloßruine aus dem unendlichen, stummen, todten Weiß hervorsahen.

Zuweilen zog die eigene Schwere ein Häuflein vom biegsamen Tannengezweig hinab zum Fall, dann stäubte ein Geflock auf, ähnlich einem Rauchwölkchen, aber der immer gleichmäßig fortrieselnde Schnee deckte bald wieder den nackt gewordenen grünen Zweig.

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