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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

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„Also im günstigsten Fall – 216 009 Franken,“ sagte Richard ruhig.

„Hast Du das so flink heraus? Um so besser! –

Ich lächelte, wie ich das las. Wie oft schon hatte ich ähnliche Anzeigen gelesen, wenngleich nicht über so gewaltige Summen! Oft sogar mit Konterfeien der Herren Diebe geschmückt, in den ‚Fliegenden Blättern‘ und im ‚Kladderadatsch‘. Immer hatte ich dabei das Gefühl: da könnte ich nun in eine große Gesellschaft solcher Diebe gerathen und fände doch den Richtigen nicht heraus. Mir fehlt eben der Polizeiblick. Das ist wie mit dem Finden verlorener Gegenstände. In meinem ganzen Leben habe ich nur einmal einen alten Westenknopf gefunden. Und das fiel mir just ein, wie ich die Anzeige las. Einen besonderen Eindruck machte sie mir kaum, – ich kannte ja die Einzelheiten, und besser. Immerhin prägte sie mir das dürftige Signalement ein. Ueber Mittelgröße! Was will das besagen? Dergleichen giebt es unter zehn Männern doch mindestens drei bis vier. – Breitschultrig ! Auch ein nettes Indicium! – Glatt rasirtes Gesicht! Läßt sich leicht verbergen.“

„Immerhin besser als ein bärtiges Gesicht,“ warf Richard dazwischen, „denn Bärte lassen sich abschneiden.“

„Accentloses Französisch sprechen auch einige Millionen Franzosen. Nur die vier Finger an der linken Hand! Die lassen sich freilich nicht verbergen. Einen vierfingrigen Spitzbuben würde sogar ich erwischen, wenn er so gefällig wäre, mir gerade in den Schuß zu laufen.

Wie ich das alles hin und her erwog, kam ein Mann aufgeregt in den Wartesaal, mit einem funkelnagelneuen gelben Handkoffer. – Halt! mein Mann! Derselbe Mensch, mit dessen Droschke die meinige vor einer Viertelstunde zusammengefahren war. – So reiste er doch mit dem nämlichen Zuge wie ich? Wenn er es aber so eilig gehabt hatte, warum kam er später als ich hier herein, der ich doch draußen erst meinen Koffer aufgegeben hatte und nun schon gute zehn Minuten hier saß? –

‚Ist der Expreßzug nach Köln schon fort?‘ fragte er in aufgeregtem Ton den wachhaltenden Billetkontrolleur.

‚Noch fünfzehn Minuten, mein Herr.‘

‚Sind Sie ganz sicher?‘

‚Wenn ich es Ihnen sage!‘

‚Mein Kutscher, dieses Thier, hat mich fälschlich zum Ostbahnhof gefahren, obgleich ich ihm deutlich ‚Nordbahnhof‘ gesagt habe. Er behauptete, ich hätte ihm ‚Ostbahnhof‘ gesagt. Hat man jemals so etwas erlebt!‘

‚Ja, das kommt hin und wieder vor,‘ meinte der Beamte phlegmatisch.

Was kommt einem Billetkontrolleur auf einem Pariser Bahnhof nicht alles vor!

‚Erst fährt der Esel unterwegs mit allen möglichen Droschken zusammen, dann bringt er mich zu einem falschen Bahnhof und schließlich verlangt er die doppelte Taxe, weil er mich zwei Touren gefahren haben will.‘ – Dabei drückte er auf die Klinke der Perronthür. Verschlossen! Er gebärdete sich wirklich gar zu ungeduldig. Unwillkürlich – ich wußte nicht warum, ich hatte ja nicht den kleinsten Anlaß zu irgend welchem Verdacht – aber unwillkürlich blickte ich auf des Menschen linke Hand. Ich hatte das übrigens seit dem Morgen mit allen Leuten gethan, die mir begegnet waren. – Völlig gesunde fünf Finger, und ich lachte mich innerlich aus. Nie einen Pfennig gefunden, nie auch nur ein vierblättriges Kleeblatt, und nun hatte ich wohl gar Lust, unter den zweieinhalb Millionen Parisern den vierfingrigen Viermillionendieb zu entdecken!

Ich griff wieder zum ‚Soir‘, las aus Langweile schließlich sogar das Stückchen Romanfeuilleton und war eben mitten in einem schaurigen Giftmord, dem eine Dame aus dem Quartier de l’Europe zum Opfer gefallen war, als die Glasthür zum Perron von draußen geöffnet ward und der schnarrende Ruf erscholl: ‚Die Reisenden nach Tergnier, St. Quentin, Belgien, Deutschland!‘ Ich hatte der Thür zunächst gesessen, aber trotzdem kam mir der Mensch mit dem gelben Koffer zuvor. Mit unhöflichem Ungestüm schoß er an mir vorüber durch die wie überall nur mit einem Flügel geöffnete Thür und war im Abendnebel verschwunden.

Der Zug war ziemlich stark besetzt, und es fiel mir schwer, ein behagliches Coupé zu finden. Ich suchte den Durchgangswagen nach Köln, – an allen Fensterscheiben Köpfe. Doch halt, im letzten Coupé nur ein Kopf! Ich drückte dem Schaffner einen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 461. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_461.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)